DOMRADIO.DE: Herr Dr. Assenmacher, in den vergangenen Monaten mussten coronabedingt viele Hochzeiten ausfallen. Das heißt, die Zahl der Eheschließungen in 2020 wird noch geringer sein als schon 2019. Ihre Instanz kommt nun immer erst ins Spiel, wenn Menschen nach dem kirchlich gegebenen Ja-Wort feststellen, dass diese Zusage doch nicht trägt, und sie sich entscheiden, von der Kirche prüfen zu lassen, ob sie trotzdem aneinander gebunden bleiben oder ihre Ehe von Anfang an nicht gültig war. Wie hat sich bislang Corona auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Prälat Dr. Günter Assenmacher (Offizial im Erzbistum Köln): Natürlich traf es uns – wie alle anderen Bereiche auch – von jetzt auf gleich. Als der Lockdown Mitte März angeordnet wurde, mussten wir zunächst alle Termine bis auf Weiteres absagen. Das heißt: alle Beratungsgespräche, die schon vereinbart waren, genauso die terminierten Anhörungen von Ehepartnern und Zeugen in laufenden Verfahren, alle Sitzungen der Richterkollegien.
So etwas lässt sich weder telefonisch noch per Skype wettmachen, denn es geht bei den Anhörungen vor allem um die Unmittelbarkeit, die für das richterliche Urteil unersetzlich ist. Es soll möglichst wahrheitsgetreu an den Tag gebracht werden, was jemand zu Beginn seiner Ehe einmal gewollt hat. Das ist schon unter „normalen“ Umständen nicht einfach – denn jeder schreibt ja seine eigene Geschichte Tag für Tag fort – geschweige denn unter erschwerten Bedingungen.
Wenn uns dann davon erzählt wird, müssen wir einen Blick dafür haben, ob es wirklich so war oder schon „überschrieben“ ist. Denn jeder sucht ja oft nach guten Gründen für sein Verhalten und verzerrt damit nicht selten das, was wirklich stattgefunden hat. Unser Ziel ist es, eine möglichst zutreffende Schilderung zu erhalten. Ein nur medialer Kontakt oder eine ausschließlich schriftliche Beantwortung vorgelegter Fragen können die unmittelbare Begegnung nicht ersetzen. Das gilt übrigens nicht nur für den gerichtlichen Bereich.
DOMRADIO.DE: Dann ist die Anhörung also das Kernstück eines Prozesses…
Assenmacher: In der Tat, davon hängt viel ab. Aussagepsychologie ist innerhalb der Ausbildung zum Eherichter jedenfalls eine eigene, wichtige Disziplin. Dass dieser wesentliche Teil unserer Arbeit einige Wochen ganz entfiel, machte es zwar möglich, sich auf andere Bestandteile der Verfahren zu konzentrieren, die gut und gerne auch zuhause mithilfe der Akten im Homeoffice aufgearbeitet werden konnten, aber coronabedingt lagen alle Verfahren im Beweisstadium erst einmal auf Eis.
Und neue wurden so gut wie nicht eingebracht. Hatten wir 2019 bis Ende Juli 72 Beratungsgespräche, so sind es in diesem Jahr nur 55. Und statt 60 neuer Verfahren im Vorjahr haben wir bislang nur 29. Gleichwohl haben wir noch Arbeit genug, denn zum Jahresbeginn waren insgesamt noch 134 Verfahren anhängig.
Außerdem beschäftigt uns der bevorstehende Auszug aus dem ebenso schön wie zentral gelegenen Dienstsitz im Priesterseminar wegen Renovierungsarbeiten in ein Provisorium. Allein 14.500 Akten abgeschlossener Eheprozesse seit 1945 haben wir deshalb in den letzten Wochen gut geordnet ins Historische Archiv des Erzbistums gebracht.
DOMRADIO.DE: Die Pandemie hat viele Ehen und Familien vor eine Zerreißprobe gestellt. Zum Stressfaktor wurden die Themen Kinderbetreuung bei Homeoffice, mangelnde Unterstützung etwa durch Großeltern, Existenzängste und viele sonst versteckte Probleme, die durch die Krise erbarmungslos offengelegt wurden, bis hin zu Formen häuslicher Gewalt. Erwarten Sie, dass sich diese nüchterne Bestandsaufnahme absehbar auf die Zahlen von angestrebten Ehenichtigkeitsverfahren niederschlagen wird?
Assenmacher: Es ist denkbar, dass die erschwerten Lebensbedingungen für Familien während des Lockdowns die Statistik gescheiterter Ehen nach oben treibt. Ob das im gleichen Maße für Annullierungsverfahren gilt, stelle ich allerdings infrage. Grundsätzlich verzeichnen wir ja – vor allem demografisch bedingt – bei den Eheschließungen überhaupt rückläufige Zahlen.
Dazu kommt ein erschreckender Rückgang der Zahlen bei kirchlichen Trauungen infolge der immer weiter erodierenden kirchlichen Bindung. Von einer Ehescheidung betroffene Menschen befinden sich überdies immer seltener in einer Lebenssituation bzw. in einem Arbeitsverhältnis, für das eine kirchlich gültige Ehe erforderlich ist. Entsprechend weniger Klienten haben wir im Offizialat zu erwarten.
Unabhängig von Corona und leider nicht nachhaltig gebremst von den Änderungen des Ehe-prozessrechtes unter Papst Franziskus ist die Zahl der neuen Eheprozesse in erster Instanz an den deutschen Offizialaten seit 2017 von 765 über 671 im Jahr 2018 auf 640 im Jahr 2019 gesunken.
DOMRADIO.DE: Apropos Zahlen: Vor wenigen Tagen hat das Statistische Bundesamt die jüngsten Erhebungen zu Scheidungen veröffentlicht. Demnach waren es im letzten Jahr 149.000, von denen in 26.000 Fällen die Partner über 25 Jahre miteinander verheiratet waren. Können Sie analog dazu bestätigen, dass es eine beachtliche Zahl an Paaren gibt, die sich erst nach vielen gemeinsamen Jahren entschließen, getrennte Wege zu gehen und den einmal geschlossenen Bund fürs Leben annullieren zu lassen?
Assenmacher: In der Tat kommen zu uns nicht nur Menschen, die erst kurz miteinander verheiratet sind und ihre Verbindung recht schnell als großen Irrtum bezeichnen, sondern auch solche, die bereits Jahrzehnte miteinander verheiratet sind.
Da Frauen heute in der Regel berufstätig und damit finanziell unabhängig sind, fühlen sie sich nicht mehr auf Biegen und Brechen an ihren Partner gebunden. Auch der soziale Druck, dass früher eine Scheidung weithin mit einem Makel behaftet war, besteht längst nicht mehr. Heutzutage ist eine Scheidung – so bedauerlich es ist – für viele gar nicht mehr der Rede wert.
Kinder können lange das Bindeglied einer Ehe sein. Wenn das aber wegfällt, weil die Kinder aus dem Haus gehen, dann überprüft man für sich, ob sich die Erwartungen, die man an das gemeinsame Projekt Ehe einmal hatte, erfüllt haben, und erkennt vielleicht mit einem Mal, dass da mehr Schein als Sein ist, und löst das Gefüge. Manche suchen sich dann ein neues Hobby, andere beginnen eine Liebschaft. Man lebt nebeneinander her, bis der Tag kommt, an dem sie die Konsequenz ziehen, weil es ehrlicher ist, sich zu trennen.
DOMRADIO.DE: Wie erklären Sie sich, dass heute viele die Anstrengung scheuen, am Gelingen einer Ehe – zum Beispiel mit professioneller Hilfe – richtig hart zu arbeiten?
Assenmacher: Ich selbst bin davon überzeugt, dass keine Institution unter einem derartigen „Glücksdiktat“ steht wie die Ehe. Wir alle leben in einer zunehmend segmentierten Welt. Aber als Ehepartner bin ich, wenn es gut geht, in meiner Ganzheit gefragt, das heißt, ich bin nicht nur ausschnittweise – in einer Art Fragmentierung – Tennisfreund, Konzertbegleiter oder guter Gesprächspartner etc., sondern an mich werden ganzheitliche Erwartungen gerichtet.
Das Ganzheitliche konzentriert sich zunehmend auf die Paarbeziehung, die viel leisten muss. Es wird erwartet, dass die Ehe glücklich macht. Unbedingt. Tut sie das nicht – und dieser Glückserwartung kann sie letztlich nicht immer genügen, weil sie auch Zumutungen und Kränkungen mit sich bringt – dann kommt es früher oder auch später zum Bruch, weil nun – mehr als zu Beginn der Beziehung – diese Seite der Ehe als Last empfunden wird.
Der eigenen Selbstverwirklichung wird dann nicht selten die Aufrechterhaltung der Ehe geopfert; jeder geht seiner Wege. Um es mit Adorno zu sagen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. So jedenfalls sehen das viele und handeln entsprechend.
DOMRADIO.DE: Nun sind Sie weder Eheberater noch Familientherapeut. Trotzdem ist Ihnen nichts Menschliches fremd. Denn als Seelsorger hören Sie während eines Ehenichtigkeitsverfahrens vieles von dem, was im Alltag eines Paares zur Krise und letztlich dann zum Wunsch führt, die Ehe beenden zu wollen. Haben Sie aufgrund Ihrer langjährigen Praxis vielleicht den einen oder anderen Tipp, weil Sie feststellen, dass einst Liebende doch immer in ähnliche Fallen tappen?
Assenmacher: Von Auguste Rodin gibt es eine sehr schöne Skulptur zweier Hände mit dem bezeichnenden Titel „Die Kathedrale“. Für eine gotische Kathedrale wie den Kölner Dom zum Beispiel ist, wenn ich das richtig begriffen habe, das Prinzip der Auflösung von Masse charakteristisch. An Stelle der massiven Wände der Romanik treten die lichten Fensterbahnen, über den hochragenden Pfeilern spannen sich die Gewölbe.
Die einzelnen Elemente des Raumes wirken grazil und leicht; sie sind verletzlich, aber so lange stabil, wie die Spannung hält. Das kann man gut auf eine Beziehung übertragen, und ich denke, das will Rodin mit seinem Kunstwerk sagen: Wenn in einem solchen Gebilde die Spannung verloren geht, bricht es in sich zusammen. Das kann durch einen äußeren Faktor, zum Beispiel den Tod eines gemeinsamen Kindes, den Verlust des Arbeitsplatzes und damit der Achtung oder Wertschätzung, der jeder bedarf, beeinflusst werden, aber auch durch einen Verlust von innen. Nach dem Motto: Einen Menschen lieben heißt, ihm die Antwort nicht zu ersparen.
Lässt der dafür unerlässlich notwendige Wille nach, gibt man den Willen auf, die Spannung aufrecht- und auszuhalten. Das Gewölbe stürzt ein. Der Wille ist also ganz entscheidend. Denn jede Ehe muss etwas aushalten, steht unter Anfechtungen. Mein Eindruck ist: Viele Menschen geben zu früh zu schnell auf. Sie kämpfen nicht wirklich um die Rettung, den Erhalt ihrer Beziehung, weil sie gar nicht gelernt haben, etwas unbedingt zu wollen. Und sie werden von ihrer Umgebung dazu oft auch nicht ermuntert und dabei wirklich unterstützt.
Und noch etwas: Brautleute sollten unbedingt miteinander über die Ehe ihrer Eltern sprechen. Denn das, was jeder in der eigenen Familie erlebt hat, so oder so, prägt den Menschen viel mehr, als er sich eingestehen möchte und für den anderen in Rechnung stellt.
Und schließlich ist auch die Fähigkeit, einander verzeihen zu können, ganz wichtig. Selbst nach einem Ehebruch, was zweifelsohne schwerfällt. Aber keiner darf denken: „Mir kann das nicht passieren“, sondern man muss immer damit rechnen, einer Versuchung nicht standhalten zu können. Das soll keineswegs ein Freibrief dafür sein, den anderen zu hintergehen und in elementarer Weise zu verletzen. Aber wir müssen nicht nachtragen, sondern können vergeben.
DOMRADIO.DE: Aus allem höre ich heraus, dass die Arbeit der am Offizialat als Richter oder Ehebandverteidiger tätigen Frauen und Männer, Kleriker und Laien auch eine zutiefst seelsorgliche Seite hat. Warum nur sieht sich die Kirche immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, Ehenichtigskeitsverfahren seien so etwas wie „Scheidung auf katholisch“?
Assenmacher: Wir hätten kein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn wir die Urteile veröffentlichen dürften und diejenigen, die sich wirklich dafür interessieren, die Prozesse verfolgen könnten. Denn sie würden sehen, dass die Gerichte im Nachhinein nichts konstruieren, sondern in einer redlichen, sehr gründlichen Weise die Wahrheit ans Licht zu bringen versuchen. Nur darum geht es.
Und das hat für die Beteiligten oft etwas Befreiendes. Das Scheitern in diesem Licht zu sehen bedeutet nicht selten Erleichterung und schafft eine neue Freiheit. Natürlich: Oft ist es ein sehr schmerzhafter Prozess, dem Nichtgelingen der eigenen Ehe auf den Grund zu gehen. Manchmal tun sich in solchen Gesprächen menschliche Abgründe auf. Das müssen die Beteiligten dann auch aushalten können.
Aber diese Prozesse, die ja sehr ans „Eingemachte“ gehen und emotional oft stark besetzte, hochsensible Fragen ventilieren, werden ganz diskret geführt. Nach Ende des Verfahrens spricht kaum ein Beteiligter darüber, weil es eine private Sphäre gibt, deren Schutz man wahren will und respektieren muss.
DOMRADIO.DE: Warum dann das schlechte Image?
Assenmacher: Wir veranstalten keine Wunschkonzerte. Das heißt, ein Prozess geht nicht für jeden Betroffenen so aus, wie er es sich gedacht hat. Dann sind Menschen enttäuscht und schimpfen auf das Gericht. Nur sehr verkürzt wird dann unsere Vorgehensweise dargestellt, und nicht selten schießt man sich darauf ein, hier würden hauptsächlich alle Intimitäten einer Partnerschaft schamlos ausgebreitet. So entsteht eine negative Propaganda, gegen die wir uns nicht wehren können, solange das Anliegen der Diskretion des Privaten dem Interesse einer öffentlichen Information vorgeordnet bleibt.
Viele stehen unserer Arbeit auch deshalb ablehnend gegenüber, weil sie – durch ein Missverständnis des Begriffs „Annullierung“ – meinen, wir versuchten gleichsam mit einem großen Radiergummi ein Stück gemeinsamer Lebensgeschichte – auch mit den vielen guten Erfahrungen – auszulöschen. Aber wir radieren nichts aus. Wir legen, wie gesagt, nur offen – und das auch nur für die Beteiligten.
DOMRADIO.DE: Wie begegnen Sie denn diesem Kampf gegen Windmühlen, was die öffentliche Kritik betrifft?
Assenmacher: Indem ich Tag für Tag unbeirrt meine Arbeit mache, auf Anfragen geduldig Rede und Antwort stehe, in der Aus- und Weiterbildung der pastoralen Dienste und auch den in der Ehevorbereitung und -begleitung Tätigen ein Verständnis dafür zu vermitteln versuche.
Seit Beendigung meines Zusatzstudiums in Rom von 1980 bis 1984 ist hier am Offizialat mein Arbeitsplatz. In meinen mehr als 25 Dienstjahren als Leiter dieser Behörde gingen mehr als 6.000 Akten von Eheprozessen über meinen Schreibtisch. Selbst wenn jedes Eheschicksal sehr individuell ist, lassen sich allgemeine Beobachtungen anstellen. Dazu gehört, dass sich nicht wenige Menschen wünschen, die Kirche würde die Legitimität des Scheiterns anerkennen und sich ohne Wenn und Aber mit allen freuen, denen es gelungen ist, einen Schlussstrich zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen.
Doch bei allem sollte nicht vergessen werden: Es wurde ein Versprechen gegeben und nicht gehalten. Nicht irgendein Versprechen, sondern eines, dessen Gegenstand „Christus zur Würde eines Sakramentes erhoben hat“. Das heißt, hier ist Menschen im positivsten Sinne des Wortes zugemutet und unter die Verheißung der Gnade gestellt, ein Stück Himmel auf Erden Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn das misslingt, lässt sich daran nichts schönreden. Eine Ehe kann auch „die Hölle auf Erden“ werden. Mit anderen Worten: Gegen unser schlechtes Image kommen wir so oder so nicht an.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.