DOMRADIO.DE: Alternativurlaub wird es genannt, aber warum heißt es nicht einfach Flüchtlingshilfe?
Pfarrer Matthias Leineweber (geistlicher Begleiter der Gemeinschaft Sant’Egidio): Die Gemeinschaft hat ja seit vielen Jahren Kontakt mit Flüchtlingen. Es ist auch Tradition schon, dass man in den Ferien und in der Urlaubszeit nicht nur an sich denkt, sondern auch an die Menschen, die eben nie Urlaub machen können oder gerade in einer Lebenssituation sind, wo Urlaub ganz weit weg ist. Da ein bisschen von der Zeit, die man hat, zu teilen mit Menschen in dieser Not auf Lesbos, das war die Idee. Die Aufgabe ist also kreativ zu werden, um den Menschen dort zu helfen und ihnen auch ein bisschen etwas zu zeigen. Dass sie nicht nur eine Last sind, sondern auch willkommen sind und ihnen auch ein bisschen in der Not nahe zu sein, das war die Idee.
DOMRADIO.DE: Welche Aufgaben übernehmen die Ehrenamtler, die nach Lesbos gereist sind?
Leineweber: Wir sind hauptsächlich dort in dem "Dschungel-Camp". So wird es genannt, es ist außerhalb des eigentlich angelegten Camps, der Erstaufnahmeeinrichtung. Dort sind die Zustände wirklich dramatisch: noch viel weniger sanitäre Anlagen, es gibt viele Menschen, die große Gesundheitsprobleme haben, viele Kinder, viele Minderjährige. Und die Aufgabe ist einfach erst mal sich einen Überblick zu verschaffen: was ist eigentlich die Not dort? Und dann Freizeitaktivitäten, humanitäre Aktionen durchzuführen. Zu schauen: gibt es Menschen, die eine besondere Vulnerabilität haben, also eine Bedürftigkeit, denen man dringend helfen muss, und ihnen auch ein Signal der Hoffnung zu geben. Sie sind nicht vergessen, und es gibt Menschen in Europa, die bereit sind, ihnen zu helfen und sie aufzunehmen.
DOMRADIO.DE: Unter den Flüchtlingen sind auch viele Kinder. Was brauchen die denn? Inwiefern können die Ehrenamtler was für die Kinder tun?
Leineweber: Die Kinder sind schon Monate, teilweise sogar Jahre dort, ohne Perspektive, ohne Schule. Und Kinder leiden unter so etwas noch mehr, oft drücken sie das nicht aus. Und da ist es einfach durch Freizeitaktivitäten, spielerische Aktivitäten, kleine schulische Maßnahmen, sozusagen Lerneinheiten mit Englisch-Unterricht, ihnen zu zeigen: Es gibt eine Hoffnung, und da sind Menschen, die ihnen das Gefühl geben, sie sind nicht vergessen. Und ich glaube, das ist für sie und ihre Familien ein ganz wichtiges Zeichen.
DOMRADIO.DE: Sind denn ganz konkrete Dinge wie Lebensmittelversorgung auch ein Thema? Oder geht es eher um die Dinge, die darüber hinaus gehen?
Leineweber: Lebensmittel sind auch ein ganz wichtiges Thema. Durch die Pandemie ist die Versorgungslage noch schlechter geworden. Es haben sich auch Nichtregierungsorganisationen zurückgezogen oder ihren Einsatz eingeschränkt. Von daher ist die Versorgung wirklich prekär. Wir haben seit gestern Abend ein Restaurant der Solidarität eröffnet, um dort den Menschen auch in einem wunderschönen Rahmen, in einer alten Lagerhalle in einem Olivenhain das Gefühl zu geben, sie sind auch mal richtig eingeladen, ein festliches Essen, und das soll den ganzen August stattfinden und dann natürlich auch zu gucken, wie man sonst mit Lebensmittelhilfen den Familien vor Ort helfen kann.
DOMRADIO.DE: Welche Maßnahmen gibt es denn vor Ort, um mit der Pandemie umzugehen?
Leineweber: Null, kann man sagen. Entschuldigung, wenn ich das so deutlich sagen muss. Es gibt überhaupt keine Maßnahmen, keine Masken. Es gibt keine Desinfektionsmittel und auch keine Aufklärung, wie man sich schützen kann, natürlich auch keine Tests. Man weiß nicht, ob jemand infiziert ist. Aktuell, heißt es, es gibt keine Infektionen. Aber wenn es da Infektionen gibt, ist die Lage wirklich dramatisch, vor allen Dingen für die Kranken, die es dort gibt. Und von daher werden unsere Maßnahmen, die wir durchführen, auch die Freizeitaktivitäten, alle mit einer Aufklärungskampagne verbunden, um ihnen zu erklären: Wie kann man sich schützen? Was ist überhaupt die Krankheit? Welche Gefahren gibt es? Wie kann man auch unter solchen einfachsten hygienischen Umständen trotzdem Abstand halten, Hygienemaßnahmen durchführen wie Händewaschen und so weiter.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet das für die 150 Ehrenamtler? Begeben die sich in Gefahr?
Leineweber: Nein, natürlich nicht. Natürlich werden die Schutzmaßnahmen eingehalten: Mit Masken, mit Desinfektionsmitteln. Die jungen Leute, die dort sind, sind überwiegend Jugendliche, die auch vorbereitet worden sind. Die sind natürlich auch schon vorher in den Maßnahmen von Sant'Egidio tätig: in den Herkunftsländern in Europa, in Deutschland zum Beispiel, in der Jugendarbeit oder mit der Obdachlosenarbeit. Und da haben wir uns jetzt natürlich in den letzten Monaten auch schon sehr auf diese Pandemie eingestellt und haben die Maßnahmen ergriffen, die nötig sind, um Ansteckungen zu vermeiden.
DOMRADIO.DE: 150 Ehrenamtler für 15.900 Migranten? Lange nicht genug, oder?
Leineweber: Nein, das ist bei Weitem nicht genug. Aber es ist zumindest für sehr viele ein ganz, ganz wichtiges Zeichen. Wir dürfen nicht in das offizielle Camp. Die Maßnahme ist nur für die Flüchtlinge, die in diesen illegalen Camps lagern und untergebracht sind. Das sind aber trotzdem auch über 9.000 Flüchtlinge. Und unser Ziel ist, dass wir zumindest in diesem Monat alle erreichen, alle kennenlernen und jedem sozusagen ein bisschen die Botschaft auch vermitteln: Du bist nicht vergessen. Es gibt Menschen, die sich dafür einsetzen, dass das bald ein Ende hat und dass sie bald eine bessere Zukunft haben werden. Ich glaube, das ist ein wichtiges Zeichen.
Das Gespräch führte Dagmar Peters.