DOMRADIO.DE: Die Bundesregierung nimmt 1.553 Flüchtlinge auf. Ist das eine Zahl, die Sie beeindruckt?
Tim Kurzbach (Vorsitzender des Diözesanrates im Erzbistum Köln und Oberbürgermeister von Solingen): Nein, das ist keine Zahl, die einen beeindruckt. Insbesondere, wenn man die anderen Zahlen kennt.
Wie viele Tausende von Menschen auf Lesbos, in Moria und auf anderen Inseln wirklich tagtäglich ums Überleben kämpfen müssen. Da ist das für ein großes Land mit 80 Millionen Einwohnern doch eher eine verschwindend geringe Zahl, die auch beschämend ist.
DOMRADIO.DE: Was hätten Sie sich denn gewünscht?
Kurzbach: Ich kann nur sagen, dass die Tatsache, dass ein Staatenverbund wie Europa es nicht hinkriegt, diese Herausforderung auf Moria komplett zu lösen, eigentlich das große Versagen ist. Da ist schon seit langer Zeit kein festes Handeln zu erkennen.
Ich bin ein überzeugter Europäer und es betrübt mich unendlich, dass dieser Staatenverbund, der eigentlich mal nach den Erkenntnissen eines fürchterlichen Krieges mit unendlich viel Leid gegrundet wurde und bei dem sich damals Politikerinnen und Politiker sowie Verantwortliche in die Hand versprochen haben, dass so etwas nie wieder passieren dürfe und man ein Kontinent des Friedens werden wolle, diesem Gedanken jetzt so wenig Beachtung schenken.
Warum hatten die Menschen damals eigentlich mehr Verantwortungsbewusstsein im Herzen und in den Köpfen als so viele heute? Das frage ich mich wirklich.
DOMRADIO.DE: Eine gemeinsame europäische Lösung steht in den Sternen. Gerade haben Sie die Wahl zum Oberbürgermeister von Solingen gewonnen, Sie gehen jetzt in Ihre zweite Amtszeit und Sie haben immer signalisiert, dass Solingen Flüchtlinge aufnehmen kann. Was bedeutet die gewonnene Wahl für die aktuelle Situation?
Kurzbach: Mit Verlaub, gar nichts. Meine Haltung war vorher die gleiche, wie sie es jetzt auch immer noch ist. Wir sind Teil der Aktion "Sichere Häfen" und zwar sehr bewusst nach einem sehr intensiven Prozess.
Das haben wir in Solingen nicht einfach mal so beschlossen, sondern wir haben uns vorher Monate Zeit genommen, auch über gesellschaftliche Herausforderungen und Schwierigkeiten zu diskutieren.
Denn, wenn man die Bevölkerung überzeugen will, dann muss man auch über Sorgen, Ängste und Nöte sprechen. Das haben wir im monatelangen Prozess gemacht und sind nachher zum einstimmigen Beschluss im Stadtrat gekommen, weil wir einmal aus der Flüchtlingsherausforderung der Jahre 2015/16 gesehen haben, dass wir in Solingen es schaffen können, die Menschen wirklich willkommen zu heißen und zu integrieren. Da war ich in der Tat erst wenige Tage im Amt, als hier Hunderte von Menschen in Bussen angekommen sind.
Wir haben nicht weiter große Lager gebaut, sondern wir haben Hunderte von Wohnungen angemietet. Wir haben Hunderte von ehrenamtlichen, engagierten Menschen gewonnen, die bei Sprachkursen, bei Kleidung, bei Möbeln und so weiter geholfen haben. Wir haben das wirklich gut hinbekommen. Deswegen können wir auch aus voller Überzeugung und wahrhaftig sagen: Wir können Menschen, die vor Krieg und Terror, Diktatur oder Vergewaltigung fliehen, hier einen sicheren Hafen bieten.
DOMRADIO.DE: Haben Sie das denn der Bundesregierung jetzt signalisiert? Kann man sich da bewerben und sagen: Wir hier in Solingen sind bereit, wir nehmen eine Anzahl von diesen Flüchtlingen auf?
Kurzbach: Ja, wir sind mit dem Ratsbeschluss sowohl der Aktion "Sichere Häfen" als auch der Atkion "Seebrücke" beigetreten. Das ist auch ein sehr aktives Bündnis von Kolleginnen und Kollegen. Ich muss überhaupt sagen, dass es auch in der gesamten politischen Auseinandersetzung, glaube ich, gerade die Kommunen waren, die die Landes- und die Bundesregierung sehr stark motiviert haben, jetzt endlich zu handeln.
Das ist eine Sache, die mich als kommunaler Vertreter auch sehr stolz macht. Da ist, glaube ich, mehr Einsicht vor Ort als auf so mancher Regierungsebene, und wir werden da auch weitermachen.
Ich habe Herrn Seehofer insbesondere an die christliche Pflicht erinnert. Ich bin überzeugter Christ. Und das heißt für mich: Du musst auch konkret anpacken und handeln. Ja, ich weiß, es gibt viele rechtliche Fragestellungen, die müssen auch endlich gelöst werden. Aber wenn das Haus brennt, kannst du doch nicht erst fragen: Können wir eine juristische Norm erlassen? Sondern dann musst du doch konkret anpacken. Das ist doch die erste Christenpflicht.
DOMRADIO.DE: Aber lässt man Sie denn anpacken? Meinen Sie, dass Flüchtlinge auch nach Solingen kommen werden? Kann man da konkret eingreifen oder sich anbieten als Kommune, als Hilfe?
Kurzbach: Letztlich habe ich natürlich kein Außenministerium, das die Verhandlungen zu führen hat. Dafür haben wir eine Aufteilung in unserem Staatswesen. Und ehrlich gesagt hat man damals von der Bundesregierung sehr schnell auf uns zurückgegriffen und hat uns zugewiesen. Übrigens ist bis heute nicht abschließend ausreichend geklärt, wie Kommunen zum Beispiel auch Kosten erstattet werden.
Da konnte man schnell von oben nach unten durchgreifen, um Menschen zu helfen. Das haben wir konkret getan. Andersherum geht der Weg leider nicht so unmittelbar. Ich kann dem Herrn Innenminister schreiben. Ich bedauere es ein bisschen, dass er sich bisher noch nicht viel Zeit genommen hat, um zumindest kurz darauf zu antworten. Aber ich weiß, dass andere Kolleginnen und Kollegen, die auch im Vorstand der Aktion "Sichere Häfen" sind, die intensiven Gespräche tagtäglich mit dem Innenministerium führen.
DOMRADIO.DE: Jetzt sind sie ja nicht nur Politiker, sondern auch Vorsitzender des Diözesanrates im Erzbistum Köln. Wird die Kirche überhaupt gehört, wenn es um große politische Fragen geht wie aktuell beim Thema Moria?
Kurzbach: Ich glaube schon, dass die Kirchen ein gewichtiges Wort mitsprechen. Man kann darauf hinweisen, dass insbesondere Kardinal Woelki im Erzbistum Köln sich auch wirklich großartig und eindeutig geäußert hat.
Aber auch die evangelische Kirche ist sehr aktiv, selbst bis hin zur Finanzierung von Booten. Ich glaube, da sind wir als Kirchen schon ein sehr starker Stachel im Fleisch einer manchmal deutlich zu unbeweglichen Politik.
Das Interview führte Heike Sicconi.