"Ich werde immer mehr zu einem leeren Blatt. Mein Leben entgleitet mir, Stück für Stück": So ähnlich beschreiben Demenzkranke ihre Krankheit. Angst, Trauer, Wut und Überforderung - bereits heute ist Demenz die fünfthäufigste Todesursache in den Industrieländern, eine neue Geißel der Menschheit.
Vor dem Welt-Alzheimertag am Montag werben Wissenschaftler, Ärzte und Betroffenenverbände vor allem um Verständnis und Unterstützung für Erkrankte und Angehörige. Der Tag steht unter dem Leitwort "Demenz - Wir müssen reden". Viele Betroffene versteckten sich, weil sie die berechtigte Sorge hätten, ausgegrenzt zu werden, sagte die Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Monika Kaus, am Freitag in Berlin.
Sie verwies zudem darauf, dass in der Corona-Krise zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten von einem auf den anderen Tag weggebrochen seien. Besuchsverbote in Pflegeheimen hätten vor allem Demenzkranke schwer getroffen. Dies dürfe sich nicht wiederholen.
Mehr Hilfsangebote – aber kein heilendes Medikament
Ohne Zweifel haben sich die Hilfsangebote in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Bundesweit haben sich mehrere Hundert Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz gebildet - Netzwerke von Kirchen, Vereinen und Gesundheitseinrichtungen, die Demenzbegleiter und Angehörige schulen, Cafes für Demenzkranke gründen oder Beratung und Seelsorge anbieten. Die von der Alzheimer Gesellschaft gegründete Initiative "Demenz Partner" hat 62.000 Personen, Gruppen und Unternehmen im Umgang mit Erkrankten geschult.
Etwa 1,6 Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer Demenz. Weltweit gibt es rund 50 Millionen. Hinter dem Begriff verbergen sich rund 50 unterschiedliche Erkrankungen; die häufigste davon ist Alzheimer. Ohne entscheidende Fortschritte könnte die Zahl hierzulande bis 2050 auf rund 2,8 Millionen anwachsen.
Ein Wundermedikament ist nicht in Sicht. Bisherige Medikamententests verliefen enttäuschend. Therapien erwartet der Direktor des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn, Pierluigi Nicotera, erst in Jahrzehnten. Absehbar sind aber Fortschritte durch bessere Diagnose- und Früherkennungsverfahren. Hoffnung macht, dass das Demenz-Risiko zumindest in den westlichen Ländern zurückgeht. Offenbar spielt der Lebenswandel eine wichtige Rolle.
Dezemenz beginnt Jahrzehnte vor den Symptomen
Der Neurologe Michael Heneka vom DZNE betont, Medizin und Wissenschaft hätten mittlerweile ein völlig verändertes Verständnis von Alzheimer erarbeitet. Bislang seien die Forscher davon ausgegangen, dass die Erkrankung beginnt, wenn sich erste Anzeichen von Gedächtnisstörungen zeigten. "Mittlerweile wissen wir, dass Demenzen fast 20 oder 30 Jahre früher beginnen - zu einem Zeitpunkt, an dem keiner etwas davon merkt."
Auch die Suche nach den Ursachen hat Neues ergeben: "Mittlerweile gehen wir von einem pathologischen Dreigestirn aus", sagt Heneka: den Ablagerungen außerhalb der Zellen, Eiweißverklumpungen in den Zellen und Fehlfunktionen des Immunsystems. Es müssten unterschiedliche Therapien für die verschiedenen Krankheitsphasen entwickelt werden.
Experten sehen zudem mehrere Faktoren für das Ausbrechen von Demenz: Das größte Risiko ist das Alter. Nach dem 65. Lebensjahr verdoppeln sich Erkrankungen alle fünf Jahre. Aber auch der Lebensstil hat Bedeutung: Übergewicht, Bluthochdruck oder Entzündungen spielen eine Rolle. Regelmäßiger Sport im mittleren Lebensalter senkt das Demenzrisiko, viel psychischer Stress erhöht es.
Vorsorgung schwankt nach Wohnort
Wie Erkrankte versorgt werden, hängt stark vom Wohnort ab. In dünn besiedelten Gebieten ist der Weg zur nächsten ärztlichen Praxis oder zur Tagespflege in der Regel weit. Nach einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des DZNE gibt es zudem große regionale Unterschiede bei der Zahl der Erkrankten.
Vor allem in Ostdeutschland, wo der Anteil älterer Leute deutlich höher ist als im Westen, ist der Anteil der Erkrankten höher. Während beispielsweise im bayerischen Kreis Freising der Anteil an Menschen mit Demenz bei 1,4 Prozent liegt, so ist er in Görlitz oder Dessau-Roßlau mit mehr als 2,9 Prozent doppelt so hoch. Die Wissenschaftler sprechen sich deshalb für eine auf die Situation in Landkreisen und Kommunen zugeschnittene Versorgung aus.