Seit Jahren kämpfen Pflegekräfte in Deutschland für mehr politische Durchschlagskraft und eine stärkere Interessenvertretung im Gesundheitswesen. Der Königsweg: die Gründung von Landespflegekammern und einer Bundespflegekammer, die analog zu den Ärzte- oder Rechtsanwaltskammern die Belange der Berufsgruppe regeln und sie in Politik und Gesellschaft vertreten.
Gegen heftigen Widerstand gab es bereits Gründungen in vier Bundesländern: In Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, zuletzt auch in Nordrhein-Westfalen, stimmten die Pflegekräfte für die Gründung solcher Körperschaften des öffentlichen Rechtes. Auch die Bundespflegekammer nimmt an Fahrt auf - der Weg für eine schlagkräftige Interessenvertretung der mehr als eine Million Pflegekräfte schien gepflastert.
Hohe Beiträge
Am Montag dann ein Rückschlag - zumindest in Niedersachsen. In einer Online-Befragung zeigten 70,6 Prozent der Teilnehmer ihrer erst 2018 gegründeten Pflegekammer die Rote Karte, wie das Sozialministerium mitteilte. 22,6 Prozent stimmten für den Fortbestand der Interessenvertretung. Insgesamt nahmen allerdings lediglich 15.100 der 78.000 Kammermitglieder teil; das sind weniger als 20 Prozent.
Ein Grund für die schallende Ohrfeige: der Unmut über hohe Beiträge. Kurz vor Weihnachten 2018, also nur vier Monate nach der Gründung der Kammer, hatten alle Mitglieder einen Beitragsbescheid über den Höchstbeitrag von 140 Euro für das gesamte Jahr erhalten. Dabei wurde ein Jahreseinkommen von 70.000 Euro zugrunde gelegt - was kaum eine Pflegekraft verdient. Der Protest war massiv, der Vorstand ruderte zurück. Inzwischen wurde beschlossen, auf Beiträge zu verzichten und die Kammer aus dem Landeshaushalt zu finanzieren.
Auflösung der Kammer angekündigt
Doch wieviel Vertrauen verspielt wurde, zeigt sich jetzt. Für Landessozialministerin Carola Reimann (SPD) ist das Ergebnis der Abstimmung eindeutig: "Die Pflegekammer ist damit ganz offensichtlich nicht die Form von Vertretung, die sich die Pflegekräfte in Niedersachsen wünschen", erklärte sie und kündigte die Auflösung der Kammer an.
Vertreter der Pflegeorganisationen sehen das anders: Die Präsidentin der Landespflegekammer, Nadya Klarmann, bezeichnete eine Auflösung als rechtlich fragwürdig. Die Kammer beruhe auf einem gesetzlichen Auftrag, den der Landtag erteilt habe. "Er kann nicht einfach auf der Basis eines Minderheitenvotums revidiert werden."
"Politikversagen ersten Grades"
Auch die Bundespflegekammer erklärte, eine Abstimmung mit einer so geringen Beteiligung liefere keine Grundlage, über den Fortbestand zu entscheiden. "Plebiszitäre Verfahren in Niedersachsen sehen ein Zustimmungsquorum von 25 Prozent vor, um sicherzustellen, dass ein hinreichender Wählerwille zum Ausdruck kommt", erklärte Sprecher Markus Mai.
Der Deutsche Pflegerat sprach von einem "Politikversagen ersten Grades". Die Landesregierung habe der Pflegekammer von Anfang an eine tatkräftige Unterstützung verweigert, sagte Präsident Franz Wagner. "Schon beim ersten Problem hat sich die Ministerin von der Kammer distanziert, anstatt diese zu stärken."
Pflegerat sieht keine Alternative
Offen ist, wie es mit den Landespflegekammern weitergeht. Dabei haben die Befürworter solcher Gremien von höchster politischer Stelle Rückenwind erhalten: Sowohl Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (beide CDU) und der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, sind Befürworter.
Auch der Pflegerat sieht keine Alternative: "Es gibt bislang nicht mal gesicherte Daten über die Zahl der Pflegekräfte, wir wissen nicht mal ihr Alter und die Zahl ihrer Berufsjahre", sagt Präsident Franz Wagner. Die Pflege brauche dringend mehr Planung.
Unterschiedliche Meinungen in den Bundesländern
Zugleich gibt es weiter Gegenwind: Arbeitgeber und Gewerkschaften fürchten um Einfluss, Pflegekräfte protestieren gegen Zwangsmitgliedschaft samt Pflichtbeiträgen. Fest steht auch, dass nicht alle Bundesländer mitziehen: So entschieden sich die Pflegekräfte in Hamburg mit deutlicher Mehrheit gegen eine Kammer.
In Bayern lehnte die Landesregierung die Einrichtung ab. Stattdessen wurde ein Landespflegering gegründet, in dem Pflegekräfte freiwillig und kostenlos Mitglied werden können - aus Sicht des Pflegerates eine weich gespülte Mogelpackung.