DOMRADIO.DE: "Fürchtet euch nicht", war die Botschaft des Engels an Weihnachten. Das klingt erst mal leichter gesagt als getan. Kann man sich das überhaupt so selbst sagen?
Günther Bergmann (Psychologe und Leiter der Kath. Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen im Erzbistum Köln): Das klappt in der Regel nicht, weil es nicht nach vorne weist. Es ist günstiger, wenn man was probiert wie "Ich bin zuversichtlich", "Ich habe Mut", "Ich habe Vertrauen", "Was auch kommen mag, ich werde einen Weg finden da durch", "Ich habe gut gesorgt", "Ich habe mich keinen unnötigen Risiken ausgesetzt", "Jetzt kann ich mich getrost anderen Dingen zuwenden".
Also immer Dinge, die nicht die Angst thematisieren, denn damit fache ich sie immer auch an. Selbst wenn ich sage, ich habe keine Angst mehr, dann habe ich die Angst eben doch, weil ich sie dann benannt habe.
DOMRADIO.DE: Wie kann man diese Botschaft der Weihnachtsgeschichte "Fürchtet euch nicht" in unser Hier und Jetzt überführen?
Bergmann: Das Wesentliche ist, dass Angst und Furcht ja grundsätzlich gar nichts an sich Schlechtes sind. Wir kriegen erst mal einen Schrecken, wenn wir so etwas hören wie Covid-19. Es ist realistisch, sich da auch Sorgen zu machen und sich in dem Stress auch einen Weg zu bahnen, dass man damit klarkommt.
Das Wichtige ist aber, dass ich mir klar mache: Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Ich muss immer wieder auch loslassen können. Ich muss immer wieder was anderes machen. Deshalb ist es am wichtigsten, einen guten Rhythmus zu finden zwischen Info-Input, den ich mir immer wieder reinhole, aktuelle Zahlen, aktuelle Regelungen, und dann auch wieder etwas ganz anderem, mit dem ich mich davon völlig loslösen kann.
DOMRADIO.DE: Wie kann man sich denn selbst motivieren, Eigeninitiative aufbringen und in etwas andere Richtungen zu denken?
Bergmann: Wir haben viele Leute, die jetzt allein oder in ganz kleinem Kreis Weihnachten verbracht haben und das als durchaus schwierig erlebt haben. Sich da mal klarzumachen: Mensch, da kannst du doch richtig stolz drauf sein. Du hast es prima hingekriegt. Das war doch jetzt super.
Wenn ich an die Verwandten denke, die mich nicht besucht haben, weil ich vielleicht zur Risikogruppe gehöre: Das ist doch auch toll. Die haben auch was geleistet. Das kann man sich einfach mal wechselseitig zu sagen, also nach den Feiertagen mal anrufen und sagen: Das war jetzt echt nicht einfach, das hat richtig weh getan, aber ich bin auch mächtig stolz auf uns, wie wir das gemanagt haben.
Wir bewältigen ja gerade eine ganz ungewöhnlich schwere Krise miteinander. Gerade indem wir uns nicht das gönnen, was uns eigentlich so guttut. Das ist alles etwas paradox und schwierig.
DOMRADIO.DE: Eine positive Nachricht der letzten Tage sind die beginnenden Impfungen in der EU. Die ersten Corona-Impfungen in Deutschland haben am zweiten Weihnachtstag begonnen. Kann man sich eigentlich auch gegen Ängste immunisieren?
Bergmann: Das wäre gar nicht so sinnvoll. Wir müssen uns klarmachen, dass Ängste grundsätzlich ganz gesund sind. Ohne Ängste würden wir gar nicht überleben. Wichtig ist, dass wir sie ein Stück managen.
Das, was Covid-19 auslöst, ist ein Dauerstress, so nennen wir das in der Psychologie, und der ist ungünstig. Stress ist etwas, was uns hilft kurzfristig wachsam, aufmerksam und aktiv zu sein. Langfristig macht es uns fertig. Wir müssen immer wieder gucken, dass wir aus dem Stress auch rausfinden. Das ist die große Kunst im Umgang mit den Ängsten. Nicht Immunisieren, sondern Rhythmen finden.
Ich habe Angst. Ja, ich ziehe mir auch ganz bewusst mal die Nachrichten rein. Ich kriege mit, wie die Zahlen sich entwickeln. Dann aber auch wieder: Ich mache was ganz anderes. Ich backe jetzt die Weihnachtsplätzchen, ich schreibe Karten und ich konzentriere mich bei dem nicht auf das, was es alles an schlimmen Nachrichten gibt, sondern ganz bewusst auf das, was es auch an Schönem gibt.
DOMRADIO.DE: Was wird dieser Dauerstress für Konsequenzen haben?
Bergmann: Grundsätzlich macht Dauerstress, man kann es ganz platt sagen, krank. Also ein Stress, den wir nicht loslassen können, schwächt generell unser Immunsystem erheblich. Das ist wahrlich nicht gerade zielführend und es macht Sinn zu gucken, dass ich da immer wieder rauskomme.
Die langfristigen Folgen werden individuell sehr unterschiedlich sein. Wichtig ist mir auch eher darauf hinzuweisen, was können wir jetzt akut in der Situation, die ja noch einige Monate dauern wird, machen. Und da ist es glaube ich wichtig, immer neue Management-Versuche, Selbstmanagement-Versuche zu machen.
Ich rede mit einer Freundin. Ich mache mir einen gewissen Plan, wann ich mit wem telefoniere. Ich habe von jemandem gehört, der ganz bewusst Telefonate an die Feiertage gelegt hat oder sogar eine Videokonferenz. Das ist alles suboptimal, aber wenn es hilft, ist das gut, ist das zielführend.
Mir ist dann weniger daran gelegen zu gucken, dass das auf Dauer ganz schlimme Folgen haben wird. Wir dürfen dann eher wieder darauf setzen, dass wir uns auch wieder erholen. Wenn der Stress mit wachsendem Erfolg nachlässt, werden auch Erholungsprozesse wiedereinsetzen.
DOMRADIO.DE: Sie arbeiten in der Beratungsstelle für Ehe, Familie und Lebensfragen im Erzbistum Köln. Merken Sie diese Auswirkungen, diesen Dauerstress auch in Ihrer Tätigkeit in der Beratungsstelle?
Bergmann: Ja, absolut. Wir haben im Frühjahr zum Sommer hin das noch wenig gemerkt in den Beratungen selbst. Aber jetzt zum Winter hin doch ganz erheblich. Und das betrifft ganz stark Familien mit kleinen Kindern, die sehr, sehr viel zu managen und zu stemmen haben und die jetzt die Kinder nicht mehr anderweitig auch unterbringen können. Da merkt man schon: Das kommt wirklich als extra Paket obendrauf.
Da rate ich dann immer: Achtet darauf, dass ihr von Moment zu Moment lebt, dass ihr nicht zu viel plant. Wir leben in einer Planungsgesellschaft. Wir denken tatsächlich, wir haben die Zukunft im Griff. Wir können sehr, sehr viel Risiken ausschalten und das ist uns jetzt fast aus der Hand geschlagen. Insbesondere dann, wenn solche Verantwortlichkeiten wie Kinder oder auch pflegebedürftige Angehörige eine Rolle spielen.
Da zu sagen, ich plane nicht differenziert - natürlich ganz grob, aber nicht sehr differenziert - und lebe von Moment zu Moment und von Tag zu Tag. Ich muss jetzt nicht alles im Griff haben. Dann können sich auch schöne Momente einstellen. Dann kann das sogar schön sein auf einmal.
Manche Familien schildern das auch. Wie schön das auf einmal ist, die Kinder so viel mehr, um sich rum zu haben. Aber es ist sehr wichtig, da eine ganz große Loslass-Übung draus zu machen, wenn ich das mal so sagen darf.