Corona hin oder her, auch in diesem Winter sind die Berliner Nächte hart und kalt - besonders für die, die keine eigenen vier Wände haben. Wenn auf den Straßen eisige Temperaturen herrschen, können Obdachlose oft Unterschlupf in einer der vielen Einrichtungen der Kältehilfe finden.
1.100 Schlafplätze gibt es laut Kältehilfe im Stadtgebiet - für rund 2.000 Obdachlose, wobei die Dunkelziffer wohl noch höher liegt. Oft sind es große Zimmer, in denen mehrere Personen zusammen schlafen und sich arrangieren müssen.
Ein Hof im Hof
Deutlich anders hingegen geht es im Hof an der Pfarrkirche Sankt Pius in Berlin-Friedrichshain zu. Acht kleine Container stehen dicht an dicht in U-Form zusammen. Mit einer Plane überspannt bilden sie einen kleinen Hof im Hof; zwischendrin steht eine einzelne Bank mit einer Mülleimer-Aschenbecher-Kombination daneben.
Es sind Wohnboxen, Lodges genannt, in denen jeweils eine Person von 20 bis 8 Uhr einen warmen und trockenen Schlafplatz findet. Die viereckigen Hütten sind außen mit einer Holzoptikfolie beklebt, was ihnen einen heimeligen Charakter verleiht. In den Sommermonaten stehen sie an anderen Orten der Republik und werden vornehmlich für Festivals vermietet.
"Es ist so eine Mischung zwischen Campen und Wohnen und hat schon noch viel vom Straßencharakter", erklärt Diakon Wolfgang Willsch. "Dennoch ist es intimer und besser geschützt. Dadurch kommen Menschen zu uns, die sonst nie in eine Kältehilfeeinrichtung gegangen wären."
Obdachlosenhilfe im Erzbistum Berlin
Willsch ist Obdachlosenseelsorger im Erzbistum Berlin und gleichzeitig Vorsitzender der geistlichen Gemeinschaft "Brot des Lebens", die die Lodges organisiert und betreut. Finanziell unterstützt wird das Projekt als Teil der Kältehilfe durch den Berliner Senat - auch wenn Geld sicherlich nicht alles ist, wie Willsch betont: "Was die Stadt da macht ist grandios, aber die Kältehilfe kann ohne Engagement von Ehrenamtlichen und Trägern nicht funktionieren, das rechnet sich sonst nicht."
Der Diakon ist bereits seit 30 Jahren in der Kältehilfe aktiv. Vor sechs Jahren organisierte er dann zum ersten Mal die Lodges vor dem ungenutzten Pfarrhaus der Gemeinde an der Palisadenstraße in Friedrichshain. Die Einzelunterbringung jedes Obdachlosen macht für ihn den zentralen Unterschied zu anderen Einrichtungen aus: "Die Leute sollen bei uns das Gefühl haben, etwas Eigenes zu haben."
Bevorzugtes Winterquartier
Bei Nico scheint dieser Gedanke Früchte zu tragen - der Obdachlose zählt zu den regelmäßigen Gästen der Lodges. Seit sechs Jahren lebt er nach eigenen Angaben bereits auf der Straße, vielleicht länger. Winterquartiere hat der weißhaarige ältere Mann seitdem viele besucht und weiß, warum er die Unterkunft an Sankt Pius den anderen vorzieht: "Mit 100 Mann in einem Saal, das ist nicht mehr lustig. Privatsphäre ist da ein Fremdwort, und man muss natürlich auf seine Sachen aufpassen. Da kommt man nicht richtig zur Ruhe beim Schlafen."
In diesem Winter bewohnt Nico die Wohnbox mit der Nummer drei. Der Großteil des gut zwei Quadratmeter großen Raumes wird von einem Bett eingenommen. Die übrige Wohnfläche bietet Platz für einige Habseligkeiten des Obdachlosen; allerdings nur das nötigste, alles weitere hat er in einem Spind in einer Wohnungslosentagesstätte eingeschlossen. Vor der Tür hat er sein Fahrrad stehen.
Frisches Obst und selbstgemachte Lasagne
Auch Mahjoub (45) schätzt die Lodges sehr. Den Tunesier verbindet inzwischen auch sein persönliches Schicksal mit der Unterkunft an der Palisadenstraße. Dort konnte er selbst wieder Fuß fassen, nach gut zwei Jahren auf der Straße.
Wegen privater Probleme landete er in der Obdachlosigkeit, zunächst völlig unbemerkt von seinem Umfeld: "Menschen, die mich kannten, die haben das gar nicht mitbekommen." Wenn er zu Geld kam, nutzte er es sofort, um dafür einen Schlafplatz in einer Pension zu bekommen, sich dort duschen zu können und seine Sachen zu waschen.
Vorletztes Jahr kam er zum ersten Mal in die Unterkunft der "Brot des Lebens"-Gemeinschaft. Dort gefiel es ihm so gut, dass er umgehend anfing, sich auch als Helfer zu beteiligen. "Ich wollte zeigen, dass ich kein Obdachloser bin, der nicht mehr will, sondern einer, der hart dafür kämpft, nicht mehr auf der Straße zu wohnen."
Sein Engagement zahlte sich aus: Inzwischen ist er an vier Tagen die Woche fest angestellt und schmeißt die Küche. "Wir kämpfen dafür, dass es jeden Abend gutes und abwechslungsreiches Essen gibt." Er erzählt von frischem Obst, aber auch von selbst gemachter Lasagne. "Manchmal ist es fast wie im Restaurant."
Durch Corona: Gemeinschaftsgefühl fehlt
Normalerweise bieten Lodges und Gemeindehaus eine sichere und angenehme Unterkunft für über ein dutzend Wohnungslose. Nun ist aber eben in diesem Winter nichts normal. Für den Betrieb an Sankt Pius bedeutete die Pandemie starke Veränderungen. Zusätzlich zu den Lodges hat "Brot des Lebens" auch die Verwaltung einer zweiten Unterkunft übernommen, in einer wegen Corona leerstehenden Pension in der Nähe. Hier bekommen die Obdachlosen ein Zimmer, können sich in eigenen Badezimmern duschen und ihre Sachen waschen - für viele von ihnen ein inzwischen unbekannter Luxus.
Was seit Corona fehlt, ist das sonst so geschätzte Gemeinschaftsgefühl. Ob das Zusammenkommen zum Essen im Gemeinschaftsraum oder am Abend vor den Lodges - all das ist zurzeit nicht möglich.
"Man kann ja auch sonst nirgendwo mehr hin. Bibliotheken sind dicht, alles ist dicht, wo man sich aufhalten könnte", erzählt Nico. Das zehrt an der Stimmung der Obdachlosen, macht viele von ihnen aggressiver. "Bei einigen Leuten entlädt sich jetzt einfach die Frustration."
Zudem wurde die Angst vor einer Corona-Erkrankung zuletzt auch für Helfer und Bewohner der Notunterkunft sehr real: Im Dezember verstarb eines der Teammitglieder an dem Virus. "Das macht etwas mit einem", meint Willsch, und Mahjoub ergänzt: "Corona ist ernst und nicht zum Spaßen. Der Verstorbene war viel kräftiger als ich. Trotzdem ist er jetzt tot."
Ungewisse Zukunft
Die Geschichte setze ihm und anderen psychisch zu, erklärt der Tunesier. "Man macht sich sofort Gedanken. Hat er sich zum Beispiel hier oder woanders infiziert?" Nur wenige Tage vor der Todesnachricht habe er noch mit dem Mann gesprochen. "Er hat mein Essen 'fantastisch' genannt. Ein paar Tage später ist er tot. Wir brauchen jetzt Zeit, um das zu verarbeiten."
Wie viel Zeit den Lodges noch bleibt, ist indes ungewiss. Dem Gesamtkonzept drohe ein baldiges Aus, so Willsch. "Der Pastoralausschuss hat schon eine Pfarrzusammenlegung und die Sanierung von Kirche und Pfarrhaus beschlossen. Die Kältehilfe müsste dann aber hier weg." Für den Geistlichen nur schwer nachvollziehbar: "Warum sollte man eine kirchliche Einrichtung schließen, wenn sie genau das macht, was die Kirche tun sollte, nämlich Bedürftigen Hilfe leisten?"
Willsch hofft, dass sich die Schließung noch abwenden lässt; ein Gespräch mit dem Generalvikar stehe noch aus. Nico hingegen denkt über den Rest des Tages nach. "Ich suche mir jetzt irgendwo ein trockenes Plätzchen und versuche, noch ein bisschen die Zeit totzuschlagen bis 19 Uhr. Dann komme ich zum Essen wieder her."