DOMRADIO.DE: Die "Ackermann-Gemeinde" ist ein katholischer Verband, der sich um gute deutsch-tschechische Nachbarschaft kümmern soll. Sie haben engen Kontakt zu Ihren Partnern in Tschechien. Wie ist die Lage im Land?
Mathias Dörr (Geschäftsführer der Ackermann-Gemeinde): Im Gespräch merkt man, dass die Stimmung komplett im Keller ist. Der Lockdown dauert in Tschechien ja schon ein bisschen länger als bei uns, also seit Oktober. Man sieht die Situation auf den Intensivstationen, die voll sind, wo die Situation wirklich dramatisch ist. Aktuell hat der tschechische Ministerpräsident vor einem "zweiten Bergamo" gewarnt, also vor einer Situation, die wir in Norditalien im vergangenen Jahr erleben mussten. Angesichts der Zahlen sind das Szenarien, die wirklich realistisch sind. Es zeichnet sich ja noch keine wirkliche Besserung ab.
DOMRADIO.DE: Tschechien war beim ersten Lockdown ein echtes Vorbild mit niedrigen Infektionsauszahlen. Jetzt steigen die Zahlen extrem an. Wie kann man sich das erklären?
Dörr: Es ist richtig, in der ersten Welle war Tschechien wirklich ein Vorbild. Es wurde sehr früh die Maskenplicht eingeführt. Es gab innerhalb der Gesellschaft eine tolle Solidarität, als es darum ging, Masken zu nähen und sich damit gegenseitig auszustatten. Im Sommer hatte man dann auf einmal das Gefühl - ich war zweimal in Tschechien gewesen - dass Corona vorbei ist. Es war ein unbeschwerter Sommer in Tschechien.
Warum ist das heute so dramatisch? Ich glaube, man hat einfach zu spät reagiert. Im Herbst hat man mit Verschärfungen der Maßnahmen gewartet, weil die Stimmung überhaupt nicht danach war. Wir haben eine Situation, wo man von einem Versagen der politischen Elite durchaus sprechen kann. Sie werden ihrer Vorbildfunktion überhaupt nicht gerecht.
Wir haben in Tschechien mittlerweile seit dem Beginn der Pandemie den dritten Gesundheitsminister. Der zweite Gesundheitsminister musste zum Beispiel zurücktreten, weil er nach dem Besuch einer Kneipe, die eigentlich hätte geschlossen sein müssen, ohne Maske erwischt worden war. Wenn man sieht, dass sich die Politiker nicht an die Regeln halten, die sie aufgestellt haben, ist das natürlich für die Stimmung in der Bevölkerung nicht sonderlich gut.
DOMRADIO.DE: Wie gehen die Menschen in Tschechien denn im Moment mit der Situation um? Sind sie gelassen und gehen jetzt wieder in den harten Lockdown ohne zu murren? Oder gibt es Unmut?
Dörr: Wir hatten ja eigentlich schon einen recht harten Lockdown in Tschechien. Es ist ja nicht so, als sei es da sehr locker gewesen. Seit Oktober gibt es recht harte Regeln. Nur werden sie sehr oft umgangen und nicht mehr so akzeptiert, wie es noch im Frühjahr der Fall war. Das ist sehr bedenklich. Das hängt mit diesen schlechten Vorbildern und einer schlechten Kommunikation der Regierung zusammen.
Gleichzeitig gibt es auch im öffentlichen Leben, wie zum Beispiel mit dem ehemaligen Präsidenten Vaclav Klaus, prominente Personen, die zu den Maskenverweigerern und Corona-Leugnern gehören. Das ist ganz schwierig.
Dann gibt es aber auch manche Maßnahmen, die kontraproduktiv wirken. Konkretes Beispiel: Es wird berichtet, dass viele, obwohl sie Symptome haben, trotzdem an die Arbeit gehen, weil das Krankengeld einfach zu niedrig ist und man sich eine Krankheit einfach nicht leisten kann oder leisten will. Das sind Dinge, die dann auf einmal wirklich massiv wirken.
In der Gesamtheit: Der zum Teil laxe Umgang in der Bevölkerung mit den Maßnahmen und das Versagen der Politik, Nachlässigkeit und fehlende Konsequenz. Das führt eben zu diesen hohen Zahlen. Was noch hinzukommt: Es gibt dort eben schon diese Mutanten - die britische und die südafrikanische - die sich stark ausgebreitet haben.
DOMRADIO.DE: Die deutschen Bundesländer wollen Impfstoff nach Tschechien schicken, weil er dort deutlich knapper ist als bei uns. Wie wurde das im Land aufgenommen?
Dörr: Ich halte das erst einmal für eine gute symbolische Geste. Es geht um 15.000 Dosen. Dass gezeigt wird, dass man da ist und die Not im Nachbarland wahrnimmt und helfen will. Das ist ein ganz wichtiges Signal. Bayern und Sachsen haben ja auch schon angeboten, dass man Intensivpatienten aufnehmen könnte. Das Angebot ist leider von tschechischer Seite noch nicht angenommen worden, aber das wird wohl bald kommen.
Das sind wichtige Signale, die in der Bevölkerung wahrgenommen werden und die wichtig sind, wenn wir nach der Pandemie wieder an diesem guten Miteinander ansetzen wollen, das es zwischen Deutschen und Tschechen gerade auch im Grenzgebiet, aber auch darüber hinaus, gegeben hat. Wir merken schon, dass durch die Pandemie dieser gemeinsame Geist und diese Gemeinsamkeiten, die entstanden sind, gefährdet werden.
Es wird viel national diskutiert, die Wahrnehmung fokussiert sich auf Deutsche und Tschechen. Im Frühjahr gab es die Diskussion, dass die Gefahr aus Deutschland kommt, jetzt heißt es, die Gefahr kommt aus Tschechien. Das alles wirkt sich negativ aus.
DOMRADIO.DE: Die Grenzschließungen spielen da sicher auch eine Rolle. Dann ist da auch eine räumliche Trennung wieder da.
Dörr: Ja, das hat ganz konkrete und massive Einflüsse auf das Leben. Wir waren ja in der Situation, dass diese Grenzen an Bedeutung verloren haben, dass die Menschen gependelt sind zum Arbeiten, dass die Familien auf beiden Seiten der Grenze leben und Freundschaften natürlich bestehen. Das alles ist jetzt durch die Grenzschließungen massiv betroffen.
DOMRADIO.DE: Gibt es etwas, was gerade Hoffnung macht?
Dörr: Am Samstag hatten wir eine gemeinsame Sitzung mit dem Vorstand der tschechischen Nachbargemeinde. Da hatten wir von tschechischer Seite ganz wenig Hoffnung gespürt. Es ist gerade eine wirklich schwierige Situation. Was vielleicht Hoffnung machen kann, ist, dass die tschechische Gesellschaft im Frühjahr gezeigt hat, was möglich ist an Solidarität, was sie gemeinsam auch leisten können. Und ich hoffe, dass das wieder ins Bewusstsein zurückkommt.
Das Interview führte Gerald Mayer.