DOMRADIO.DE: "Missbrauch hat eine strukturelle Seite", schreiben Sie in der Einleitung Ihres neuen Buches "Ohnmacht. Macht. Missbrauch." Warum ist es so wichtig, diese strukturelle Seite zu kennen?
Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Moraltheologe und Dekan an der Uni Bonn): Wenn es um Missbrauch geht ist ganz wichtig zu wissen, was die strukturellen und systemischen Dimensionen sind. Damit es nicht einfach nur um die einzelnen Personen, um die Täter geht, sondern dass es nur in einem Kontext überhaupt geschehen kann. Wenn es um Missbrauch geht, um sexualisierte Gewalt, dann ist es nicht nur eine einzelne Person, sondern dann gibt es auch Bedingungen, die das begünstigen, damit Rahmenbedingungen geschaffen werden. Und darum ist es auch wichtig, diese strukturelle Dimension zu sehen. Was kann man tun, um das zu verhindern? Auch mit denen, die es ermöglichen, begünstigen oder beistehen und nicht einschreiten.
DOMRADIO.DE: Und das haben Sie aus interdisziplinärer Perspektive untersucht, mit Beiträgen aus ganz verschiedenen Fachrichtungen. Warum das?
Sautermeister: Wenn es um strukturelle und systemische Faktoren geht, sind ganz verschiedene Zugänge nötig. Also Zugänge mit einer rechtlichen, einer kirchenrechtlichen Perspektive, aber auch psychologischen Perspektiven, einer organisationspsychologischen Perspektive und auch Perspektiven aus der Theologie mit verschiedenen Fächern. Weil das Phänomen so vielfältig ist und so komplex, kann man es auch nur im interdisziplinären Gespräch angemessen bearbeiten.
DOMRADIO.DE: Beim Thema strukturelle Ursachen kommen uns ja schnell Stichwörter wie Männerbünde, Hierarchie oder Klerikalismus in den Kopf. Deckt sich das mit Ihren Ergebnissen?
Sautermeister: Auf jeden Fall. Die Themen Klerikalismus und Machtstrukturen - und zwar missbräuchliche Machtstrukturen - sind ganz groß. Was diesen Themen gemeinsam ist, ist der Punkt, dass es darum geht: Wie kann eine Institution Vorrang haben vor Individuen? Also eine Institution vor dem Leid der Opfer, der Betroffenen, der Überlebenden. Und hier ist zu schauen was dazu führt, dass die einzelnen Menschen als Betroffene, als Subjekte aus dem Blick geraten und es darum geht, eine Institution zu schützen. Das ist eine ganz zentrale Frage.
DOMRADIO.DE: Dass es da Zusammenhänge gibt, also zwischen Machtstrukturen und Missbrauch – das wissen wir schon länger. Was haben Sie da vielleicht noch an neuen Erkenntnissen gewinnen können?
Sautermeister: Die Frage, die wir uns gestellt haben, kommt aus der Theologie heraus, im Sinne einer kritischen Selbstreflexion der Theologie. Nämlich, inwieweit Theologie durch die Art, wie Theologietreiben geschieht und inwieweit Theologie auch bei der Theologenausbildung eine Rolle spielt, möglicherweise blinde Flecken hat oder selbst dazu beiträgt, dass solche blinden Flecken vorangetrieben werden, damit missbrauchsbegünstigende Strukturen aufrecht erhalten oder nicht kritisch aufgedeckt werden.
DOMRADIO.DE: Was könnten das für blinde Flecken sein?
Sautermeister: Ein Bereich, um es mal zu benennen, ist das Thema Abspaltung. Ich als Moraltheologe kenne mich in diesem Feld gut aus. Wenn bestimmte Dinge so idealisiert werden, dass Schattenseiten, Uneindeutigkeiten ausgeblendet werden müssen, damit man vor sich selber stehen kann. Ich sage das einmal anders: Was nicht sein darf, kann nicht sein und dann ist die Gefahr natürlich viel größer, dass das sozusagen im Hintergrund, im dunklen Bereich, im Schatten, im Vertuschten sich Bahnen bricht. Also zu fragen: Wie trägt zum Beispiel die Theologie dazu bei, dass eine Überhöhung, eine Idealisierung von Ämtern, von Personen, von Strukturen stattfindet, was dazu führt, dass diese Dinge unantastbar werden?
DOMRADIO.DE: Was müsste die Kirche denn konkret tun, um diese strukturellen Probleme, die Sie da benennen, anzugehen?
Sautermeister: Ich glaube eine ganz wichtige Frage neben der Umsetzung von Menschenrechtsfragen und der Umsetzung von rechtlichen Fragen wäre, wirklich sich mit dem auseinanderzusetzen was passiert ist. Also mit dem Leid der Betroffenen. Was für Auswirkungen hat es wenn die Institution Vorrang vor den Einzelnen hat? Eine wirkliche Auseinandersetzung damit würde erst einen inneren Resonanzraum eröffnen, hier zu reagieren. Ein Kollege, der auch an dem Buch mitgewirkt hat, Andreas Odenthal, hat es so formuliert - und auch weitere Beiträge wie der von Wolfgang Reuther, die sagen: Es geht auch darum, überhaupt zu betrauern was passiert ist, damit man einen inneren Raum hat, um zu spüren worum es geht, damit sich wirklich etwas verändern kann.
DOMRADIO.DE: Am Donnerstag haben Sie Ihr Buch online vorgestellt und diskutiert. Welches Fazit nehmen Sie aus dieser Veranstaltung mit?
Sautermeister: Das Interesse war sehr groß und es gab sehr viele Teilnehmer. Auch im Chat gab es viele angeregte Fragen. Das Thema treibt viele Menschen um. Wir als Kirche müssen für dieses Thema Lösungen und Wege der Aufarbeitung finden. Ich glaube auch, und das haben die Fragen im Chat gezeigt, dass der Wunsch und der Druck etwas zu verändern groß sind. Und es war auch gut an der Resonanz, dass wir das diskutiert haben. Es gab so viele Fragen, dass wir in einer Stunde gar nicht auf alle eingehen konnten. Das ruft quasi danach, dass es weitergeht.
DOMRADIO.DE: Was erhoffen Sie sich im besten Fall von Ihrem Buch?
Sautermeister: Das Buch wird ein Beitrag sein zur Diskussion. Erstens, dass wir innerhalb der Theologie und auch für die Theologenausbildung noch sensibler und gründlicher darüber nachdenken, wie wir in unserem Theologietreiben darauf aufmerksam machen können, wo solche Faktoren sind, die auch den Missbrauch begünstigen. Es gilt auch, theologische Denkfiguren auszumachen, die solche Faktoren möglicherweise unterstützen. Wir müssen dafür sensibilisiert werden, damit so etwas eben nicht geschieht. Das ist die eine Hoffnung. Die andere Hoffnung ist, dass der Diskurs weitergeführt wird, um dafür zu sensibilisieren, was die Auswirkungen für die Betroffenen sind. Ganz wichtig ist auch, dass wir den Betroffenen zuhören, verstehen, was es bedeutet und daraus Konsequenzen ziehen. Und wenn uns das gelingt, dann ist viel gewonnen.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.