Was hat es mit dem Tarifvertrag für die Altenpflege auf sich?
Der Markt in der Altenpflege ist stark zersplittert. Anbieter sind Kommunen, Wohlfahrtsverbände und Kirchen; knapp die Hälfte der Pflegeheime ist in privater Trägerschaft, darunter börsennotierte Konzerne, aber auch kleine Familienbetriebe. Es herrscht Tarif-Wirrwar. Nur die kommunalen Einrichtungen bezahlen nach den im öffentlichen Dienst ausgehandelten Tarifen.
Eine Sonderstellung haben die von den kirchlichen Schwergewichten Diakonie und Caritas geführten Heime und Pflegedienste. Sie verhandeln nach dem kirchlichen Arbeitsrecht in eigenen Gremien. Die meisten privaten Heime und Pflegedienste sind nicht tarifgebunden. Schon vor der Corona-Krise waren sich alle Anbieter und die Politik aber einig, dass der große Personalmangel in der Altenpflege nur aufgelöst werden kann, wenn die Bezahlung für die rund 1,2 Millionen Beschäftigten in der Altenpflege besser wird.
Was soll durch einen Tarifvertrag geschehen?
Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich schon im Koalitionsvertrag auf einen bundesweiten Tarifvertrag festgelegt. Allerdings ist der Widerstand in der Branche groß. Viele Arbeitgeber verweisen auf die bestehende Mindestlohnkommission in der Pflege, die alle zwei Jahre Vorschläge zu den Arbeitsbedingungen in der Branche abgibt, darunter etwa die Höhe des Mindestlohns.
Um welchen Tarifvertrag für die Pflege geht es in der Debatte?
Die dem eher linken Spektrum nahe stehende Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und die Vereinte Dienstleistungsgesellschaft (Verdi) haben sich auf einen Tarifvertrag geeinigt. Allerdings vertritt die Bundesvereinigung nur ein sehr kleines Spektrum an Arbeitgebern in der Pflege; auch Verdi ist bei Pflegekräften nur sehr gering vertreten.
Dennoch wollte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil diesen Tarifvertrag für bundesweit verbindlich erklären. Dafür brauchte er aber die Zustimmung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie, die 30 Prozent der Beschäftigten in der Altenpflege stellen, um eine gewisse Repräsentativität zu erreichen. Die privaten Arbeitgeber haben Klagen gegen einen solchen Tarifvertrag angedroht.
Warum hat die Caritas ihre Zustimmung verweigert?
Für eine Zustimmung wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas notwendig gewesen. Die Arbeitnehmerseite hatte sich für ein Ja zum Tarifvertrag ausgesprochen, die Arbeitgeberseite stimmte dagegen. Nach dem Nein der Caritas verzichtete die Diakonie auf eine Abstimmung.
Was waren die inhaltlichen Gründe für das Nein?
Die Dienstgeberseite vermisst im Tarifvertrag eine betriebliche Altersvorsorge, passgenaue Arbeitszeitmodelle und Überstundenzuschläge. Zum anderen befürchtet sie, dass die Pflegekassen sich künftig am Tarifvertrag Altenpflege als Norm orientieren und die Mehrkosten derjenigen Einrichtungen nicht mehr refinanzieren, die höhere Löhne zahlen. Die Caritas zahlt in der Altenpflege nach eigenen Angaben schon jetzt höhere Löhne als der Branchendurchschnitt und als das im Tarifvertrag festgelegte Lohnniveau. Und drittens befürchtet die Caritas eine Einmischung von außen in das eigene kirchliche Tarifrecht.
Das Nein hat auch innerhalb des Caritasverbandes für ein Beben gesorgt. Warum?
Caritas-Präsident Peter Neher verteidigte einerseits die Autonomie der Arbeitsrechtlichen Kommission. Andererseits sei "ein riesiger öffentlicher Schaden entstanden". Die gesamte Arbeit der Caritas werde schlecht geredet. "Das Nein schadet der Glaubwürdigkeit der Caritas und es kommt zu Unzeiten für die katholische Kirche", sagte er. Auch die Interessensgemeinschaft der Mitarbeitenden in Caritas und Kirche (IG-MiCK) äußerte scharfe Kritik: Das Veto der Arbeitsrechtlichen Kommission verhindere eine höhere Entlohnung von vielen Pflegekräften außerhalb der Caritas - "und das mitten in einer Pandemie, die diesen Menschen unheimlich viel abverlangt".
Wie reagieren Politik und Öffentlichkeit?
Medien und Politik äußerten sich sehr kritisch. "Mit kirchlichem Segen" sei eine bessere Bezahlung vieler Pflegekräfte in Deutschland verhindert worden, so der Vorwurf etwa im "Bericht aus Berlin" und in der "Zeit". Verdi rief zu lokalen Protestveranstaltungen vor Caritas- und Diakonie-Einrichtungen auf. Das Nein stehe in krassem Widerspruch zu den sonstigen Aussagen und Werten der konfessionellen Wohlfahrtsverbände.
Auch 17 Professoren für Christliche Sozialwissenschaften und Sozialethik erklärten, dass die Caritas sich "als ein für die Beschäftigten gefährlicher Entsolidarisierer" erwiesen habe. Dass der Caritasverband noch glaubwürdig als Anwalt für die Interessen von Benachteiligten auftreten könne, sei unwahrscheinlich.
Könnte die Entscheidung Auswirkungen auf den kircheneigenen Dritten Weg im Arbeitsrecht haben?
Der Dritte Weg ist schon länger politisch und rechtlich unter Druck. 2012 hatte das Bundesarbeitsgericht den Gewerkschaften eine Tür in die Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen geöffnet und entschieden, dass sie im kirchlichen Arbeitsrecht beteiligt sein müssen. Das Nein zum Flächentarifvertrag dürfte diese kritische Position verstärken. Die sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Kerstin Tack, unterstellte der Caritas prompt, den Tarifvertrag abgelehnt zu haben, "weil sie ihren Sonderstatus in Gefahr sieht".
Man müsse prüfen, "ob der Dritte Weg nicht eher ein Weg zu Lasten Dritter ist". Die pflegepolitische Sprecherin der Linksfraktion, Pia Zimmermann, erklärte: "Die Privilegien für kirchliche Arbeitgeber müssen beschnitten werden, wenn sie sich derartig gegen notwendige gesellschaftliche Verbesserungen stellen." Auch die katholischen Sozialethiker sehen die Caritas zerrissen zwischen der Rolle als unternehmerisch handelnder Wettbewerber auf dem Sozialmarkt und der Rolle als am Gemeinwohl orientierter Wohlfahrtsverband.
Wie geht es jetzt weiter in der Altenpflege?
Vergangene Woche forderte Caritas-Präsident Neher Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf, eine umfassende Pflegeversicherungsreform noch vor der Bundestagswahl vorzulegen. Die geplante Tarifbindung könnte dadurch durchgesetzt werden, dass nur Einrichtungen und Dienste, die ihre Altenpflegekräfte nach Tarif entlohnen, am Markt zugelassen werden.