DOMRADIO.DE: Sie sind die Co-Vorsitzende des deutsch-chinesischen Dialogforums, was ist die Aufgabe dieser Organisation?
Annette Schavan (Co-Vorsitzende des deutsch-chinesischen Dialogforums und ehemalige deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl): Es ist ein Forum der Zivilgesellschaft. Die Mitglieder kommen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur; manche von uns sind auch an chinesischen Universitäten tätig. Das Forum besteht seit 1995; ich habe mit meinem früheren Ministerkollegen den Vorsitz vor einigen Jahren übernommen.
DOMRADIO.DE: US-Präsident Biden – das hat er gerade auf dem Gipfel erklärt – sieht Chinas Streben, die größte Wirtschaftsmacht der Welt zu werden, als größte Herausforderung für die Demokratien in diesem Jahrhundert. Sind Sie da bei ihm?
Schavan: Ja. Mit dieser Feststellung, mit dem G-7-Gipfel beginnt jetzt öffentlich und augenscheinlich die Debatte darüber, dass wir natürlich niemandem verbieten können, wirtschaftlich die Nummer eins zu werden. Aber dass damit nicht verbunden sein kann, uns mit einer Ordnung der Haltungen, der Werte zu konfrontieren, die gleichsam zur Weltordnung werden soll. Dafür gibt es ja immer wieder Anzeichen. Und da, glaube ich, sind ein selbstbewusstes Europa und ein selbstbewusster Westen, der über seine Werte spricht, über seine Ordnungsvorstellungen spricht, ganz wichtig.
DOMRADIO.DE: Gerade Deutschland ist wirtschaftlich eng mit China verflochten – kann da ein Spagat zwischen ökonomischer Partnerschaft und klaren Worten in Sachen Menschenrechten überhaupt gelingen?
Schavan: Das muss immer wieder praktiziert werden. Angela Merkel war ja die Bundeskanzlerin, von der jene, die immer wieder mit ihr nach China gereist sind, gesagt haben: "Sie war eigentlich die erste Bundeskanzlerin, die ganz deutlich bei jedem Gespräch klar gemacht hat: ‚Wir sind an Dialog interessiert, wir wollen diesen Dialog, wir wissen darum, dass die ökonomische Partnerschaft für uns wichtig ist. Aber wir reden auch über das Andere, wir reden über die Menschenrechte, wir reden über Ordnungsvorstellungen, wir reden über Kooperationen in anderen Bereichen.‘" China nur als einen großen ökonomischen Markt zu sehen, ist nicht in Ordnung und würde über kurz oder lang auch nicht so funktionieren, wie wir das glauben.
DOMRADIO.DE: Sie haben in Ihrer Zeit als deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl die äußerst sensiblen Verhandlungen zwischen dem Vatikan und Peking verfolgt, Sie haben im Dialogforum selbst mit Partnern in China zu tun. Was macht den Umgang, den Dialog mit Vertretern der Volksrepublik so schwierig?
Schavan: Es gab sehr verschiedene Phasen, schon in den fünfzehn Jahren, die ich jetzt in diesem Dialog bin. Es gab die Phase, in der der Eindruck entstanden war, es gibt eine Öffnung nicht nur in ökonomischer Hinsicht, es gibt Öffnung und Interesse auch an dem, was Demokratie ausmacht und was zur Ordnung unserer Gesellschaften gehört. Derzeit haben viele, die schon lange in dem Dialog sind, den Eindruck, das Interesse an unseren Werten, an unserer Ordnung, an Multilateralismus, also dem Zusammenspiel von verschiedenen Partnern bei den großen globalen Themen geht in China zurück, das macht das Gespräch viel anstrengender, als es war.
Immer wieder gibt es Themen, bei denen auf der chinesischen Seite gesagt wird: "Das ist eine innere Angelegenheit, darüber wollen wir mit euch nicht sprechen!" Das finde ich im Moment, als jemand der voll für diesen Dialog steht und auch den Dialog zwischen Vatikan und China richtig fand, sehr problematisch. Und da müssen sich die Chinesen bei einem selbstbewusster werdenden Europa und Westen nun auch im Klaren darüber sein, dass der Dialog nicht darin besteht, immer mehr Themen auszuschließen.
DOMRADIO.DE: Eine klare Haltung zu China – von fundamentaler Wichtigkeit auch für die künftige Kanzlerin oder den künftigen Kanzler. Haben Sie da einen Ratschlag?
Schavan: Das, was aus den Parteien zu hören ist, ist doch nahe beieinander – Gott sei Dank. Und der Rat wäre immer: Im Dialog bleiben mit Selbstbewusstsein und mit dem klaren Anspruch, auch über die Fundamente unserer Gesellschaft zu sprechen, auch über die Freiheit zu sprechen, auch über das zu sprechen, wovon wir überzeugt sind, dass es für jede moderne Gesellschaft in verschiedenen kulturellen Kontexten bedeutsam ist.
Das Interview führte Tobias Fricke.