Ingo Brüggenjürgen (DOMRADIO.DE-Chefredakteur): Sie sind für viele Menschen eine Mutmacherin gewesen. Können Sie mit dem Begriff etwas anfangen?
Schwester Ingrid Grave OP (Dominikanerin im Kloster Ilanz): Manchmal muss ich mir selbst Mut machen. Es gibt Situationen, die schwierig sind, gerade auch heute in der Kirche. Vielleicht bin ich eine Mutmacherin. Ich kann mich erinnern, dass ich eine Frau in Luzern getroffen habe, die in einem Café auf mich zukam und sagte: "Weil ich Sie im Fernsehen gesehen und erlebt habe, bin ich nicht aus der Kirche ausgetreten." Da war ich dann ein bisschen stolz.
Brüggenjürgen: Sie haben über Jahre hinweg die Sendung "Sternstunden" und das "Wort zum Sonntag" im Schweizer Fernsehn moderiert. Wenn Sie zurückschauen, was war Ihnen in Ihrem Glaubensleben immer wichtig?
Schwester Ingrid: Wichtig war mir, dass ich in den Glauben hineinkomme, dass ich nicht einfach Glaubenssätze übernehme, die mir im Religionsunterricht, in der Kirche beigebracht wurden, als ich noch Kind oder Jugendliche war. Da habe ich mich versucht, ein Stück weit innerlich zu distanzieren und selbst runterzugraben. Dann habe ich mich in der Zeit, in der ich ins Kloster eingetreten war, sehr mit biblischen Texten auseinandergesetzt. Den eigentlichen Einstieg in biblische Texte habe ich erst durch die feministische Theologie bekommen. Da habe ich angefangen, mich wirklich für die Bibel zu interessieren. Da kamen so viele Frauen vor. Das hatte ich vorher gar nicht so gemerkt.
Brüggenjürgen: Was gibt Ihnen denn selbst Kraft?
Schwester Ingrid: Zum Teil ist es ja auch ein Geschenk, dass man überhaupt neugierig wird. Das ist ein Geschenk. Weil ich den Dingen auf den Grund gehen wollte, habe ich mich runtergebohrt. Nicht nur in den Text, sondern auch ein Stück weit bei mir. Was hilft mir, gut zu leben? Wie komme ich auch mit Schwierigkeiten zurecht?
Wenn man in einen Orden eintritt, fragt man sich ja: Wofür bin ich eigentlich hier? Ein Stück weit habe ich das im Kloster gelernt. Damals nannte man das "Übernatürliches Denken". Das hört sich sehr altmodisch an, aber es geht darum, dass man sich fragt: Warum passiert mir das? Warum passiert dies oder jenes?
In der Kirche, im persönlichen Leben oder auch innerhalb der Ordensgemeinschaft gibt es schwierige Zeiten. Dass ich lerne, das zu überwinden und immer wieder zum Eigentlichen, zum Wesentlichen zurückzufinden, das war mir wichtig. Das muss man einfach lieben.
Brüggenjürgen: Viele, gerade junge Leute, stehen ja in einer kritischen Distanz zur Kirche. Warum lohnt es sich für junge Leute, sich auf diese Suche zu machen?
Schwester Ingrid: Weil es einfach auf viele Fragen im Leben keine endgültige Antwort gibt, wenn man nicht noch ein wenig dahinter schaut und sich fragt: Warum existiert das eigentlich alles? Warum existiere ich? Man lernt, durch Schicksalsschläge vielleicht, dass man nicht alles in der Hand haben kann, dass man in Depressionen fallen kann, wenn man nicht zu einem Glaubensfundament finden kann, bei dem man spürt: Es gibt mehr als das, was ich greifen, sehen und organisieren kann. Das glaube ich, suchen junge Leute heute auch.
Brüggenjürgen: Sie sind über 80 Jahre alt. Es gibt kein ewiges Leben auf der Erde, sondern im Himmel. Wie gehen Sie diesem entgegen?
Schwester Ingrid: Ich kann nicht sagen, dass ich mich aufs Sterben freue. Im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, mit Schwierigkeiten zu leben. Ich habe mich mit dem Tod auseinandergesetzt und mit dem Sterben. Ich war einmal sehr ernstlich krank. Das hätte schief gehen können – ist aber nicht schiefgegangen. Ich habe mich wieder erholt. Es war ein Krebs, der nie wieder aufgetreten ist.
In dieser Zeit der Unsicherheit, wo ich gar nicht wusste, wie es enden wird – habe ich noch ein Jahr? habe ich noch zehn Jahre? – habe ich doch sehr nach innen gehorcht und gespürt: Es muss etwas geben, was hinter allem steckt was sichtbar und greifbar ist. Warum kann ich nicht darauf vertrauen?
Ich habe mich ins Vertrauen hineingegeben, dass da noch etwas kommt, was ich nicht kenne, was größer ist als ich selbst und über meine Vorstellungen hinaus geht. Das ist mir sehr gut bekommen. So lebe ich ganz fröhlich. Ich weiß ja nicht, wann ich sterbe. Ich bin auch nicht ernstlich krank. Aber vielleicht kommt doch noch eine Todesangst auf, so kurz vorm Sterben. Das weiß ich nicht. Aber jetzt habe ich keine Angst, darauf zuzugehen.