Ingo Brüggenjürgen (DOMRADIO.DE-Chefredakteur): Was hat Sie am Neuen Testament so sehr fasziniert, dass Sie gesagt haben: Das mache ich zu meinem Beruf?
Hildegard Scherer (Professorin für Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur): Wenn man einmal anfängt, kann man damit nicht mehr aufhören. Es ist für mich die Faszination, mich in diese ganz alten Welten da hineinzufühlen und dabei zu merken, wie aktuell das ist und was da eigentlich für Schätze dahinter stecken.
Brüggenjürgen: Haben Sie da ein konkretes Beispiel für uns?
Scherer: Man macht sich ja meistens wenig Vorstellungen, was die Menschen so fasziniert haben könnte am Christentum. Was genau bringt sie dazu, auf einmal diesem galiläischen Wanderprediger, dem Auferstandenen, irgendwelchen Leuten hinterher zu gehen? Wenn man dann genau liest, zum Beispiel im Galaterbrief, dass es da ein Taufbekenntnis gegeben hat, mit dem alle Christus angezogen haben wie ein Kleid, richtig sichtbar und dass es jetzt nicht mehr Jude und Helene gibt, nicht mehr Sklave und freier Mensch, nicht mehr männlich und weiblich gibt in dieser Gemeinschaft, dann kann ich mir schon vorstellen, dass man da gemerkt hat: Oh, das ist doch was, was es sich auszuprobieren lohnt. Dass man dieses Kleid anzieht und dann auch schaut, was passiert, wenn man sich jetzt so schätzt wie die, die dieses Kleid angezogen haben.
Brüggenjürgen: Als Sie die Bibel unter der Perspektive der Frauen besonders studiert haben: Was haben Sie für sich persönlich neu entdeckt?
Scherer: Da ist vieles, über das ich vorher nie gestolpert bin, wie es wahrscheinlich vielen geht. Wer die Lesungen aus dem Gottesdienst kennt – da kommen manche Dinge einfach nicht vor: etwa Römer 16, die Grußliste. Da grüßt Paulus eine ganze Menge Leute in Christus: angefangen von Phoebe, die nach Rom reist, über ein Ehepaar mit einer Gemeinde im Haus, über Frauen, die sich mühen in Christus. Er würdigt viele Menschen und deren Engagement, ohne dass die irgendwelche Titel und Ämter haben. Da wird deutlich, wie stark Frauen am Anfang dabei gewesen sind und wie wichtig das gewesen ist. Das wäre ohne die nie im Leben gegangen.
Brüggenjürgen: Was sagen Sie den Frauen, die heutzutage sagen: Ich komme in Bibel und Kirche doch gar nicht vor.
Scherer: Das sind natürlich Texte, die viel von patriarchalen Zeiten geprägt sind. Wen es reizt, da dran zu kratzen und mal zu schauen, wo die Stachel gegen dieses patriarchale System sind und wo da die starken Frauen auch im Alten Testament sind: Da steckt Potenzial drin, wo man ein bisschen suchen muss, aber wo man auch fündig wird. Wo kann man aus diesen Idealen lernen? Aus diesem gegenseitigen Respekt und aus dieser gegenseitigen Unterordnung? Da denke ich etwa an den ersten Korintherbrief, 1 Korinther 7, wie Ehepaare miteinander umgehen: vollkommen reziprok – so wie der Mann, so auch die Frau.
Brüggenjürgen: Wozu möchten Sie ermutigen?
Scherer: Ich möchte ermutigen, auf die Suche nach Mut zu gehen. Mir geht es so: Wenn ich manchmal einen Durchhänger habe – man hat nicht jeden Tag dulci jubilo – dann gehe ich durch die Stadt da unten. Oder dann treffe ich Freundinnen und Freunde, mache was zusammen mit anderen und treffe dabei auf Leute, von denen ich lernen kann. Wo ich merke: da ist so viel Güte im Raum, da ist so viel Kraft im Raum. Das macht mir wieder Mut. Nicht immer bei den Profis gucken, sondern raus ins Leben gucken.
Brüggenjürgen: Was hält sie im Innersten zusammen?
Scherer: Das ist eine Mischung aus verschiedenen Dingen: aus der Besinnung, aus diesem Vertiefen in die Texte. Das klingt jetzt so ganz theologisch. Aber es ist wirklich das Eintauchen ins Leben. Auch der Humor. Auch das Kraftspüren bei Sport oder Bewegung. Da gibt es für verschiedene Sorten von Mutlosigkeit verschiedene Möglichkeiten, dagegen vorzugehen.