"Der Staat schuldet nicht nur den Familien der Opfer, sondern allen Libanesen die Wahrheit", betonte das Oberhaupt der Maronitischen Kirche am Mittwochabend mit Blick auf die schleppende Aufarbeitung der Katastrophe vom 4. August 2020 mit rund 200 Toten und mehr als 6.500 Verletzten.
Politische Forderungen von Kardinal Rai
Angesichts des vor einem Jahr vergossenen Bluts von "Märtyrern" könne es keine politische Immunität geben, sagte der Patriarch in Richtung jener staatlichen Autoritäten, die nicht nur ihre Unschuld beteuerten, sondern unter Hinweis auf ihre Immunität auch Ermittlungen gegen ihre Person bekämpften.
Einmal mehr forderte Rai außerdem eine umgehende Regierungsbildung angesichts der immer dramatischeren wirtschaftlichen Krise im Land. "Die internationale Gemeinschaft ist für die Nöte der Libanesen sensibler als die libanesischen Führer selbst", so der Patriarch.
Das Gedenken in unmittelbarer Nähe des Kraters, den die Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat vor einem Jahr hinterlassen hat, begann mit einem muslimischen Gebet und einer Schweigeminute für die Opfer. Im Anschluss wurden die Namen der Todesopfer der Katastrophe verlesen.
An dem Gottesdienst nahmen zahlreiche Angehörige der Opfer sowie auch der päpstliche Gesandte im Libanon, Nuntius Joseph Spiteri, teil. Politiker waren nicht anwesend.
Mut und Hoffnung
Die politische Klasse im Land diene nur ihren eigenen Interessen, während die Bevölkerung unter der Last der Krise leide, kritisierte Rai in seiner Predigt. Zugleich sprach der Kardinal den Libanesen Mut und Hoffnung zu; unter anderem mit dem Hinweis auf die jüngste internationale Geberkonferenz, bei der am Mittwoch weitere millionenschwere Hilfen für den Libanon angekündigt wurden.
So sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der von ihm angestoßenen Konferenz 100 Millionen Euro und die Lieferung von 500.000 Corona-Impfdosen zu. Deutschland versprach 40 Millionen Euro, die EU-Kommission zusätzliche 5,5 Millionen zu bereits geplanten 50 Millionen Euro im laufenden Jahr.
Die Geber verbanden damit deutliche Forderungen an die politische Führung des Libanon, die Hintergründe des Unglücks aufzuklären und Reformen auf den Weg zu bringen.