Eine traditionsreiche ökumenische Institution wurde am Donnerstagabend in Köln gewürdigt: Unter dem Titel "Die Bibel als Sprachereignis" feierte der Robert-Grosche-Kreis sein 75-jähriges Bestehen, nachdem die Festlichkeiten am eigentlichen Jubiläumstermin zu Jahresbeginn coronabedingt verschoben werden mussten.
Gemeinsames Lesen der Heiligen Schrift
Beginnend mit dem 22. Januar 1946, als in der Domstadt noch die Schäden des Krieges allgegenwärtig waren, lud der damalige Kölner Stadtdechant Robert Grosche (1888-1967) jeweils sechs katholische und evangelische Geistliche zu regelmäßigen Treffen ein. Unterstützt wurde seine Idee vom evangelischen Superintendenten Hans Encke. Gemeinsam las man die Heilige Schrift und tauschte sich auf freundschaftlicher Basis darüber aus – weit bevor ökumenische Verbindungen fester Teil von Kirchengemeinden beider Konfessionen wurden.
Bis auf eine Pause in den 1980er-Jahren besteht die Zusammenkunft bis heute weiter. Allerdings öffnete sich der Kreis auch für theologische Laien und Frauen, die Interesse am gemeinsamen Austausch über die Bibel haben. Und so stand das Wort Gottes auch im Mittelpunkt der Soiree, die in der Karl-Rahner-Akademie für gut gefüllte Plätze sorgte.
Pionier der Ökumene
Zu den Gratulanten gehörte auch der heutige katholische Kölner Stadtdechant, Msgr. Robert Kleine. Er hob die Spuren hervor, die Grosche an vielen Stellen in der Domstadt hinterlassen habe. Neben seiner Pionierarbeit in der Ökumene habe er zum Wiederaufbau der katholischen Kirchengebäude einen wichtigen Beitrag geleistet, sagte Kleine. Mit seinem Bestreben, konfessionell Trennendes zu überwinden und der gemeinsamen Betrachtung des Bibelworts, die an die christlichen Wurzeln erinnere, sei Grosche seiner Zeit weit voraus gewesen. Der Stadtdechant bedankte sich bei Erzpriester Radu Constantin Miron, der mit seiner Anwesenheit bei der Soiree ein "besonderes Zeichen der Wertschätzung" gesetzt habe. Der griechisch-orthodoxe Geistliche ist seit 2019 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland.
"Die Gottesanbieterin"
Nach einem Grußwort des Leiters des Robert-Grosche-Kreises, dem früheren evangelischen Ökumenepfarrer Dr. Hans-Georg Link, sowie von Pfarrer Markus Zimmermann, stellvertretender evangelischer Stadtsuperintendent von Köln, stand der zweite Teil der Soiree ganz im Zeichen der Heiligen Schrift und ihrer Sprache, die auch heute noch zu poetischen Auseinandersetzungen inspiriert. Passend dazu hatten die Organisatoren die Lyrikerin Nora Gomringer eingeladen, die Werke aus ihrem Gedichtband "Gottesanbieterin" rezitierte.
Mal impulsiv, mal still und leise durch die Beschreibung von Momentaufnahmen setzt sich die Schriftstellerin, die 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann und ein internationales Künstlerhaus in Bamberg leitet, mit den Spuren Gottes im Alltag auseinander. So verarbeitete sie etwa Erlebnisse als Messdienerin, die sie zum Glauben geführt hätten oder einen Besuch der modernen Bruder-Klaus-Kapelle des Schweizer Architekten Peter Zumthor bei Mechernich. Ein weiteres, österlich geprägtes Gedicht, setzt sich mit dem "Stabat Mater" des zeitgenössischen Komponisten Arvo Pärt auseinander.
Gomringers Werke stünden – trotz ihrer manchmal humoristischen Züge – der biblischen Sprache nahe, meint der zweite Talk-Gast auf dem Podium der Soiree, der Dortmunder Alttestamentler Professor Dr. Egbert Ballhorn. "Ihre Texte brechen in Alltagswelten ein, so kann Gott ins Wohnzimmer marschieren", lautete ein Kompliment des Theologen. Allerdings würde Gomringer die Gotteserfahrung durch ihre differenzierte Wortwahl nicht vorwegnehmen.
Damit stehe sie in der Tradition der Psalmbeter, denen die Gottesferne bewusst sei, die ihn aber trotzdem direkt anrufen würden, erklärte Ballhorn. Dennoch gebe es bei Gomringers Gedichten, wie auch in den Bibeltexten Abschnitte, die sich ihm nicht erschließen würden. "Texte müssen einen auch ratlos zurücklassen", so der Professor und Exeget. Dies eröffne eine tiefere Dimension der Wahrnehmung und zeige die emotionale Seite des Sprachereignisses.
Zu viel Gewohnheit in Gottesdiensten
Kritik übte Ballhorn an dem Vortrag biblischer Texte innerhalb von Gottesdiensten, der oft eintönig sei. "Es ist zu viel Gewohnheit in den gottesdienstlichen Texten, die von Hauptamtlichen verwendet werden", meint Egbert Ballhorn. Auch dürfe sich die Kirche, die bestrebt sei, Texte in die Liturgie "einzuhüllen" nicht anmaßen, über sie verfügen zu können. Das Erschließen der lyrischen und Wahrheitsdimension der Heiligen Schrift sei eine immerwährende Herausforderung – für alle, die sich mit ihr auseinandersetzen.
Dem Gedanken schloss sich Gomringer, die auch den Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland "Synodaler Weg" begleitet, an. Auch wenn Bibeltexte oft unbequem seien, würden sie einen enormen Reichtum aufweisen. Ob in Kirche und Gesellschaft: "Es fehlt der Wille zur Auseinandersetzung mit Spröde und Härte, um sie in Herzlichkeit zu überführen", sagte die Lyrikerin. Sie vermisse bei der "Smartphone-Generation" die Eigenschaft, poetische Worte verstehen zu können.
Immer mehr Menschen hätten nicht die Fähigkeit, Sprache als Ereignis aufzunehmen. Dazu trage auch bei, dass in schulischer Ausbildung oder im Studium Bibeltexte nicht mehr laut vorgelesen würden. Wenn Texte mit dem Herzen verstanden werden sollen, sei dies jedoch nötig. Im positiven Sinne sei "jede Art des Vortrags eine kleine Art der Invasion und des Angriffs". Für ihre Arbeit als Lyrikerin sieht Nora Gomringer die Heilige Schrift und die Sprache im sakralen Raum daher als große Inspirationsquelle. "Ich muss mir viel kirchlichen Content suchen in der Welt."