An Gott. Jerusalem, Israel. Eine US-Briefmarke. Am 20. November 2020 nahm er vom Bundesstaat Maine aus seine lange Reise auf. Wie Hunderte ähnliche Briefe. Am Montag übergab der Geschäftsführer der israelischen Post, Danny Goldstein, das Bündel an den Rabbiner der Klagemauer, Schmuel Rabinowitsch. Nach einem Brauch, der laut der Verwaltung der Heiligen Stätte mehr als 300 Jahre zurückreicht, steckte der Rabbiner die Anliegen aus aller Welt in die Mauerritzen.
Die Umschläge kommen aus Kenia, Deutschland, Indien, Russland oder auch Lateinamerika. Über die israelische Postzentrale landen sie im Fundbüro der Post, bis das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana naht.
Zwischen Elul, dem Monat, der den Hohen jüdischen Feiertagen vorausgeht, und dem Versöhnungstag Jom Kippur sind nach jüdischer Tradition die Himmel besonders offen und Gott noch empfänglicher für das Gebet. Immer vor Rosch Haschana wird auch die Klagemauer von den Gebetszetteln der vergangenen Monate gereinigt, Platz für neue Gebete geschaffen.
Ganz verschiedene Anliegen
Die Anliegen sind so verschieden wie die Briefmarken. "Hilf ihnen, vorwärts zu schauen und weiterzuleben", bittet ein Mensch auf seinem Sterbebett für seine Lieben. Um Trost im Leiden und Vertrauen auf die eigenen prophetischen Gaben geht es in einem anderen Brief. Ein Junge aus Deutschland bittet um ein Ende der Pandemie und um ein neues iPhone. Ein Schreiber aus den USA entschuldigt sich mit einer Umschlagnotiz, dass er keine passende Briefmarke gefunden habe.
"Als König Salomo Gott den Tempel als Wohnung baute, bat er ihn, seine Augen Tag und Nacht offen zu haben über diesem Haus und die hier gesprochenen Gebete zu erhören", so Rabinowitsch. Als Bote empfindet sich der für die Klagemauer verantwortliche Rabbiner dabei nicht. "Hier an der Klagemauer beziehen wir uns auf das Wort König Salomos: Es ist ein Ort des Gebets für alle Nationen, und wir empfehlen Gott diese Gebete an, zum Guten."
Briefe an Jesus in der Grabeskirche, die heilige Jungfrau Maria in ihrem Grab und den Heiligen Geist sind unter den Schriftstücken, die sich seit dem letzten jüdischen Neujahrsfest im Fundbüro der israelischen Post gesammelt haben. Auch einer an "Jesus, Geburtsstraße, Bethlehem" ist dabei. Sie alle landen ohne Unterschied im selben Briefkasten Gottes: der Klagemauer. "Ein Brief ist ein Symbol", erklärt die Kommunikationsbeauftragte Noy Kedem-Madmon. "Wer beten will, muss keinen Brief schreiben. Trotzdem schreiben Menschen diese Briefe, in Zeiten, in denen keiner mehr Briefe schreibt."
Auch elektronische Übermittlung möglich
Als das Projekt der Post vor rund zehn Jahren seinen Anfang nahm, waren es säckeweise Briefe, die die Vertreter einmal im Jahr an die Klagemauer brachten. Heute bekommt Gott viel seltener handgeschriebene Briefe mit Marke. Mittlerweile sind die meisten der 300 Millionen Postzustellungen jährlich in Israel Rechnungen. Private Post fällt mit knapp zwei Millionen Sendungen kaum mehr ins Gewicht.
Auch die Gebetszustellung an Gott geht mit der Zeit: Längst können Gebetsnachrichten elektronisch übermittelt werden. Überbracht werden sie dann ganz traditionell: ausgedruckt auf Papier, zu kleinen Zetteln gefaltet, kommen sie in die Mauerritzen der Heiligen Stätte.
Doch seit Covid-19 die Welt in Schach hält, sind auch die Briefe wieder mehr geworden. "Wir haben einen Anstieg von rund 30 Prozent verzeichnet", sagt Noy Kedem-Madmon. Sie erklärt es sich mit der Sehnsucht der Menschen nach Jerusalem. "Vor Corona kamen viele Menschen selbst an die Heiligen Stätten. Seit eineinhalb Jahren können die meisten das nicht mehr." Auch die Anliegen dieser Menschen an die Klagemauer zu tragen, so Goldstein, "ist eine Verantwortung und eine Mission und ein unglaubliches Privileg". Ein jeder der Briefe, so der Post-CEO, stehe für das Leben eines Menschen, der sich mit Bitten der Vergebung, Anliegen und Worten des Danks an Gott wendet.