DOMRADIO.DE: Heute informieren sich viele vor der Wahl über Portale wie den "Wahl-O-Mat". Sie sagen aber: Das reicht nicht. Warum?
Dr. Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler und katholischer Publizist): Eine Wahl ist kein Besuch im Supermarkt, wo man ganz bestimmte einzelne Artikel kaufen will und sich dann das Leckerste oder das Preiswerteste heraussucht. Sondern Politik hat immer drei Dimensionen, die im Englischen als "Policy, Politics und Polity" differenziert werden: "Policy" ist die Sachpolitik, also das, was im Wahl-O-Mat abgefragt wird. Daneben gibt es "politics" als Kampf um Macht, also auch um politische Gleichgewichte in politischem Stil, wobei man zum Beispiel anständig oder unanständig um Stimmen kämpft. Und es gibt die "Polity", die Systemdimension: Grundregeln, die unser politisches System darstellen und aufrechterhalten sollen. Und dafür kann man aus staatspolitischen Erwägungen unter Umständen auch eine Partei wählen, die einem sachpolitisch gar nicht am nächsten steht.
DOMRADIO.DE: Sie sagen also: Wenn ich wähle, dann sollte ich nicht nur auf die einzelnen Parteien gucken, sondern auch darauf, wie ich mit meiner Stimme ein stabiles politisches System wähle. Wie bekommt man das denn hin?
Püttmann: Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat den Staat definiert als den "Status (lateinisch), die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen." Man kann sich also den Staat als einen lebendigen Organismus vorstellen, der gewissermaßen auch ein ökologisches Gleichgewicht braucht. Um eine Demokratie aufrechtzuerhalten, ist es wichtig, dann auch die Maxime von Thomas Mann zu berücksichtigen, der mal gesagt hat: Wenn sich das Boot auf die linke Seite neigt, werde ich mich auf die rechte Seite setzen. Und wenn es sich auf die rechte Seite neigt, wird man mich auf der linken Seite finden.
Zu starke Mehrheiten sind nämlich immer in der Versuchung, übermütig zu werden und dann unter Umständen um den Machterhalts willen auch mal die Regeln zu ihren Gunsten zu manipulieren, wie wir das jetzt in Staaten wie Polen oder in Ungarn sehen. Dagegen steht die staatspolitische Erwägung, vor allem im Interesse der Demokratieerhaltung zu wählen. Vor allem natürlich in der Abwehr extremistischer Bestrebungen, die wir ja auch in unserem Land haben, insbesondere von rechts.
DOMRADIO.DE: Viele überlegen taktisch zu wählen um Koalitionen zu verhindern oder zu ermöglichen. Was halten sie davon?
Püttmann: Das ist völlig legitim, gerade im Sinne dessen, was ich vorher gesagt habe, also der Gleichgewichte. Es wird allerdings immer schwieriger, denn früher konnte man einfach taktisch wählen: Wenn man etwa eine bürgerliche Koalition wollte und die FDP so gerade an der Fünf-Prozent-Schwelle war, haben CDU-Anhänger FDP gewählt und wussten, dass sie sich damit im Sinne einer schwarz-gelben Koalition entscheiden. Das ist heute schwieriger geworden, weil praktisch nur noch Dreierkonstellation möglich sind, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Insofern ist es schwieriger geworden, taktisch zu wählen. Man kann sich nur ungefähr ausrechnen, welche Optionen wahrscheinlicher und welche unwahrscheinlich sind.
Man kann taktisch auch mal Parteien stark machen, die unterbewertet erscheinen. Es dominieren ja nicht immer nur gerechte Bewertungen einer Partei. Es gibt auch ungerechte. Es gibt Skandalisierungen, die infam sind. Interessant ist im Moment zu beobachten, was die staatsanwaltschaftlichen Besuche im Finanz- und im Justizministerium für einen unter Umständen politischen Hintergrund haben. Und wenn Schmutzeleien wie ein Justizmissbrauch herauskommen, kann man sich sagen: Jetzt wähle ich denjenigen, dem hier Unrecht getan worden ist.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle sollten denn die einzelnen Personen für meine Entscheidung spielen, also zum Beispiel die Spitzenkandidaten?
Püttmann: Das ist sehr wichtig. Denn einerseits haben sich ja relativ homogene Gesinnungsmilieus, die früher die Wahlentscheidungen vorformten, ein Stück weit aufgelöst, etwa das Arbeitermilieu oder das katholische Milieu. Die Zahl der Wechselwähler nahm zu und Programme sind in Dreier-Koalitionen sehr fluide. Da weiß man nie genau, was man am Ende bekommt.
Umso wichtiger werden dann die Personen. Also durchaus in dem Sinne, wie die CDU es schon bei der Wahl 1969 plakatierte: "Auf den Kanzler kommt es an." Das ist ein Slogan, der sich bei der jetzigen Wahl für die Union eher als Bumerang erweisen könnte. Es ist einfach auch wichtig, dass wir – ich benutze mal das altmodische Wort – tugendhafte Persönlichkeiten an den Schaltstellen des Staates haben und keine Hallodris oder unredlichen Leute. Wenn man eine Person wählt, die dann regiert, hat man das Original. Wenn man Programme wählt, weiß man nie, was am Ende dabei herauskommt.
Das Interview führte Hannah Krewer.