DOMRADIO.DE: Sollte der SPD-Kandidat Olaf Scholz Kanzler werden, dann wäre er der erste Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik, der keiner christlichen Kirche angehört. Denn, so lassen seine spärlichen Äußerungen zur eigenen Religiosität erahnen, er ist zwar evangelisch aufgewachsen, mittlerweile aber konfessionslos. Sie, Herr Störmer, waren lange Hauptpastor der Kirche Sankt Petri, die die Hamburger auch "Rathauskirche” nennen. Olaf Scholz war Erster Bürgermeister. Als was für einen Menschen haben Sie ihn da erlebt?
Christoph Störmer (Langjähriger Pastor der Hamburger Hauptkirche Sankt Petri): Ich habe ihn zunächst als Menschen tatsächlich beiläufig und fußläufig beim Joggen in Hamburg-Altona erlebt. Da sind wir uns manchmal samstags morgens unten an der Elbe begegnet, er lief in Begleitung zweier Personenschützer und grüßte immer freundlich zurück. Ich weiß nicht, ob er mich aus der Hamburger Hauptkirche Sankt Petri kannte. Richtig im Gespräch begegnet bin ich ihm dann beim Sommerfest zum Parlamentsschluss, zu dem die Bürgeschaftspräsidentin immer mit ausgewählten Politikern und Bürgern einlädt. Dort, im Innenhof des Rathauses, habe ich dann tatsächlich ein längeres Gespräch mit ihm geführt.
DOMRADIO.DE: Bevor wir auf den Inhalt des Gesprächs kommen, in den Gottesdiensten zum Auftakt der Legislaturperiode haben Sie Olaf Scholz nie gesehen. Trotzdem bezeichnen Sie seine Art doch als "ziemlich protestantisch”. Wie meinen Sie das?
Störmer: In Norddeutschland besucht selbst im ländlichen Raum kaum noch jemand den Gottesdienst, obwohl da immerhin noch um die 60 Prozent der Leute Kirchenmitglieder sind. In Hamburg selbst sind ja überhaupt nur noch um die 40 Prozent der Mitmenschen in einer Kirche, etwa 30 Prozent Protestanten, zehn Prozent Katholiken und Muslime. Also sind in der Stadt, in der Scholz Bürgermeister war, sind weniger als die Hälfte der Menschen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft. Das ist der Kontext.
Was Olaf Scholz aber vielleicht von seiner Art her zum Protestanten macht, ist diese gewisse Arbeitsdisziplin, die den Protestanten immer nachgesagt wird. Auch der berühmte Soziologe Max Weber hat gesagt: Protestanten versuchen, sich das Himmelreich auf Erden zu verdienen, indem sie besonders arbeitsam sind. Nach dem Motto, je erfolgreicher man ist, desto geliebter ist man bei Gott.
Aber das Protestantische hat auch etwas Asketisches, vielleicht zunächst einmal in der Anmutung, dass man das nicht so nach außen zeigt, aber doch sehr diszipliniert arbeitet. Und genau das ist doch Olaf Scholz. Viele sagen ja: "Er ist ein Scholzomat, er verzieht keine Mine.” Das stimmt nicht, finde ich. Er zeigt durchaus Mimik und hat auch Humor. Aber er ist zurückhaltend und hat diese Arbeitsdisziplin, die man vielleicht auch preußisch nennen kann. Und dass er detailverliebt ist, das habe ich auch in diesem längeren Gespräch gemerkt, das wir 2014 geführt haben
DOMRADIO.DE: Das war auf dem Sommerfest im Innenhof des Hamburger Rathauses, das Sie gerade erwähnt haben. Worum genau ging es?
Störmer: Um den heftigen Konflikt zwischen Kirchen und Politik über den Umgang mit den so genannten Lampedusa-Flüchtlngen. Damals hatte das überforderte Italien Geflüchtete von der Insel Lampedusa aus weiter nach Deutschland reisen lassen. Um die 200 Menschen kamen nach Hamburg und landeten auf der Straße. Zwei meiner Pastorenkollegen haben diese Menschen in ihrer Kirche aufgenommen, unter Zustimmung der Hamburger Kultur- und Zivilgesellschaft. Die Politik aber wollte sie nach europäischen Recht nach Italien zurückschieben. Das war der Hintergrund, vor dem Olaf Scholz und ich auf dem Sommerfest intensiv miteinander ins Gespräch kamen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie denn trotz aller Differenz auch eine christliche Haltung bei ihm ausgemacht?
Störmer: Zunächst äußerte er einen gewissen Verdruss darüber, dass sich die Kirche auf die Seite der Flüchtlinge schlug. Er habe als Politiker auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Wir als Kirche würden uns das mit dem Gebot der Nächstenliebe doch ein bisschen einfach machen, indem wir sagen: "Kommt alle her.”. Mit Verweis auf den Soziologen Max Weber, den er sehr gut kennt, betonte er den Unterschied zwischen einer persönlichen Haltung: Dass ich also meine Tür aufmache, wenn einer klopft und ihm einfach Fürsorge aus Mitmenschlichkeit zeige. Ein Staat aber habe doch eine andere Raison, müsse andere Dinge im Blick haben, zum Beispiel fragen: "Wie finanzieren wir das? Wie können wir das managen?”
So also argumentierte er, zeigte gleichzeitig aber auch Sympathie für die Haltung der Kirche, die sich eben nicht einfach cool auf Gesetze beruft wie der Staat. Ihm war offensichtlich klar, dass die Gesetzeslage allein nicht das Problem lösen konnte. Ich spürte deutlich, dass er selbst um eine Antwort rang und die Ernsthaftigkeit des Ringens habe ich ihm abgenommen und gespürt: Dieser Politiker hat Hintergrund. Er vollstreckt nicht einfach Gesetze, er ringt um Wahrheiten.
In diesem Wahlkampf spricht er vor allem von Respekt. Aber auch der Hunger nach Gerechtigkeit, von dem die SPD sonst immer gesprochen hat, ist auch ihm zu eigen, der Hunger nach Gerechtigkeit und nach Barmherzigkeit. Es gibt eben diesen Unterschied zwischen einer Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, den Max Weber meint.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie Olaf Scholz da zwischen diesen beiden Polen Gesinnungs- und Verantwortungsethik?
Störmer: Ich glaube, er braucht und sucht Gesprächspartner zu schwierigen Fragen. Er ist da nicht dogmatisch. Das rechne ich ihm hoch an, auch dass er nicht einfach hin- und her schwankt. Ich glaube nicht, dass er opportunistisch ist. Ich halte Olaf Scholz im Kern für einen aufrichtigen Mann, der gleichzeitig erreichbar ist. Und das ist für mich ein wichtiges Kriterium für Politik, dass jemand eine Überzeugung hat, für diese eintritt, aber nicht in der Überzeugung erstarrt ist, sondern den Diskurs und auch die Gegenseite fordert. So habe ich Olaf Scholz erlebt.
DOMRADIO.DE: Sie bescheinigen Olaf Scholz also einen klaren ethischen Kompass. Auf welchen Grundwerten fußt seine Ethik in Ihren Augen?
Störmer: Seine Ethik fußt darauf, dass er diese Gesellschaft fairer und gerechter machen will. Da ärgere ich mich allerdings machmal auch über ihn. Immerhin war er jetzt Finanzminister und wollte den Finanzraum aufräumen. Diese vielen Steuerbetrüger und wie viel Geld jedes Jahr in Deutschland gewaschen wird. Da wünsche ich mir, dass Olaf Scholz jetzt auch tatsächlich handelt.
Seine Gesinnung dagegen nehme ich ihm ab, aber er hat doch auch die Power, die Macht und die Gesetzgebung, um zu unterbinden, dass es immer ungerechter wird.
Ich glaube aber grundsätzlich steht er für Gerechtigkeit und dass finde ich sehr wichtig in unserer Gesellschaft, in der die Schere zwischen den Superreichen und den Armen immer weiter auseinander geht. Er sagt ja auch: "Ich gehöre zu den sehr gut Verdienenden und ich bin bereit, mehr Steuern zu bezahlen.” Das ist mir auch sympathisch, was aber nicht automatisch heißt, dass ich Olaf Scholz auch wählen werde.
DOMRADIO.DE: Olaf Scholz hat bei seiner Vereinigung als Bundesminister den Amtseid ohne den Zusatz "so wahr mir Gott helfe" abgelegt. Finden Sie das schwierig, gar traurig?
Störmer: Ich selbst vergewissere mich gern im Gebet. Aber vielleicht hat das bei ihm auch etwas Diskretes, vielleicht etwas Protesantisches. Jesus hat in der Bergpredigt gesagt: "Wenn ihr betet, dann stellt euch nicht auf den Marktplatz, sondern geht in euer stilles Kämmerlein!” Denn natürlich beobachtet das die Öffentlichkeit ganz genau: Legt er den Amtseid mit oder ohne Gottesbezug ab, geht er in die Kirche oder nicht?
Wir haben oft beobachtet, dass Wähler das goutieren, wenn jemand Mitglied einer Kirche ist, weil sie sie oder ihn dann für glaubwürdiger halten. Aber öffentlich zur Schau getragene Kirchenmitgliedschaft kann auch total hohl, opportunistisch sein. Da gucke ich nicht in sein Herz.
Ich fand es bei der Pfarrerstochter Merkel gut, dass sie "so wahr mir Gott helfe” gesagt hat, aber ich mache daran nicht die moralische Integrität einer Person fest, so wie ich das Christsein einer Person auch nicht an ihrer Kirchenmitgliedschaft festmachen kann. Ich finde es nur sehr schade, wenn Christen austreten, weil sie sagen, "Wie ihr, das Bodenpersonal, arbeitet, ist einfach unterirdisch.”
Das Interview führte Hilde Regeniter.