KNA: Herr Professor Ebertz, Macht ist in vielen aktuellen Debatten negativ besetzt, im Sinne von Machtmissbrauch. Warum zeigen Sie in Ihrem neuen Buch "Entmachtung" dagegen keine Scheu vor dem Begriff der Macht?
Prof. Dr. Michael Ebertz (Religionssoziologe und Theologe): Weil es eine grundlegende soziologische Einsicht ist, dass es keine soziale Beziehung und kein gesellschaftliches Miteinander ohne Macht geben kann. Macht ist nicht alles, aber ohne Macht ist alles nichts. Daher kann auch Kirche niemals ein macht- und herrschaftsfreier Raum sein - auch wenn derzeit synodale und sonstige Reformwege diesen Anschein erwecken wollen.
Ein Priester zum Beispiel übt in der Beichte Macht aus - freilich aber auch die Kirchenmitglieder, wenn sie nicht mehr zur Beichte gehen oder überhaupt kein Interesse mehr an den Sakramenten als Heilsgüter zeigen. Es gibt also auch eine Macht von unten. Darauf möchte ich die Aufmerksamkeit lenken.
KNA: Warum lohnt diese Auseinandersetzung mit Macht und Entmachtung?
Ebertz: Weil es hilfreich wäre, Macht im Sinne von wechselseitigen Abhängigkeiten und Angewiesenheiten zu verstehen und die Kirche in ihrer derzeitigen Entmachtung neue Macht schöpfen könnte, ohne dass dies tabuisiert wird. Wie der Soziologe Norbert Elias halte ich es für wichtig, sich bewusst zu machen, dass jeder und jede von anderen abhängig ist, mehr oder weniger. Etwa beim Bedürfnis, anerkannt und geliebt zu werden. Zugleich hat das kirchliche Versprechen, für das Heil der Gläubigen sorgen zu können, dramatisch an Macht, weil an Attraktivität, verloren. Die Kirche hat kaum mehr etwas Interessantes zu bieten, was man nicht auch anderswo - und dort oft besser - bekommen kann.
KNA: Was bedeutet das aber konkret? Welche Rolle, welche Bedeutung und welche Macht soll Kirche in der pluralen und säkularen Gesellschaft ausüben?
Ebertz: Kirche könnte den Menschen viel mehr bieten, als sie es heute tut - nach innen mit ihren Mitgliedern, nach außen für das Zusammenleben. Zum Beispiel könnte sie Orte der Inspiration gestalten, wo Menschen aus ihrem Alltag ausbrechen können, um über die spirituelle, transzendente Dimension des Lebens nachzudenken. Da geschieht einiges, aber noch sehr unentschlossen. Es geht um die Gestaltung der Erfahrung eines Jenseits von Familiensorgen, Arbeitsleben, ökonomischen Zwängen und Konsum.
Dazu sollte sich Kirche aber von einer Kirche der Wahrheiten und Antworten - die ohnehin kaum noch jemand unhinterfragt glaubt - hin zu einer Kirche der Fragen wandeln. Und nicht die Menschen mit ihren auch heute drängenden, spirituellen Fragen alleine lassen.
KNA: Wie könnten solche Orte aussehen?
Ebertz: Die Kirchen haben reiche, vielfältige Traditionen, um mit den spirituellen Seiten des Lebens zu ringen. In Gebeten und Exerzitien, in Meditation oder Stille, in der Musik, in der Kunst. Intellektuell bietet etwa die katholische Soziallehre ein Spektrum an Anstößen, um über ein gerechtes Zusammenleben nachzudenken. So könnte Gott - freilich indirekt - erlebbar werden: im geistigen Raufen von Menschen, die diesen Fragen Aufmerksamkeit schenken.
KNA: Wo soll das möglich werden?
Ebertz: In spirituellen Hotspots. Die Kirche sollte ihr noch immer vorherrschendes Territorial-Denken aufgeben. Es ist längst Zeit, sich von einer flächendeckenden Präsenz im Sinne von geistlichen Polizeirevieren zu verabschieden. Seelsorge kann und soll nicht mehr kontrollieren, was und wie jede und jeder glaubt.
Stattdessen plädiere ich für kirchliche Arenen der Multiperspektivität, in denen interessierte Leute aus ganz unterschiedlichen Richtungen zusammen kommen: Nichtreligiöse und sehr Gläubige, kulturell Engagierte, Personen aus den Wissenschaften und dem Journalismus. Es müsste die Erfahrung wachsen, dass ohne die christlichen Kirchen etwas Wertvolles verloren geht - für die Einzelnen wie für das Zusammenleben.
KNA: Was ist aber mit Konfliktthemen wie Sexualmoral oder Ausschluss der Frauen von Weihe und Priesteramt?
Ebertz: An der Frauenfrage entscheidet sich die Zukunft der Kirche. Nicht, weil es taktisch klüger wäre, Frauen einzubeziehen, sondern weil es strukturelle Gewalt und eine tiefe Ungerechtigkeit ist, sie auszuschließen. Wenn es beim klerikalen Stockwerk-Denken bleibt und die den Männern vorbehaltene Weihe sogar als unaufgebbarer Identitätskern definiert wird, wird sich die Entfremdung von der Kirche noch beschleunigen.
Es ist absurd zu behaupten, die Kirche habe einen unmittelbaren Einblick in Gottes Schöpfungsordnung, wonach sich Frauen unterordnen müssen. Übrigens wird es durch taktische Zugeständnisse, Frauen nur in Kirchenverwaltungen Führungsverantwortung anzubieten, kein Stück besser. Frauen sind nicht mehr länger von Weihe und gleichberechtigter Verantwortung auszuschließen, ohne dass sie sich selbst ausschließen und gehen.
KNA: Als Vorbild für gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten beschreiben Sie in Ihrem Buch die Caritas. Wieso?
Ebertz: Weil es in deren Sozialdiensten und Einrichtungen modellhafte Initiativen gibt, wie unterschiedliche religiöse und spirituelle Identitäten zusammen kommen. Sie akzeptieren und wertschätzen ihre Unterschiedlichkeit. Oft sind die Mitarbeitenden nicht oder in sehr vielfältiger Weise katholisch. Dennoch stehen sie in ihrem Arbeitsalltag dafür ein, die Gesellschaft zusammenzuhalten und gutes Leben möglich zu machen. Das ist eine gesellschaftliche Auftragsbeschreibung für die Kirche insgesamt.
Es ärgert mich, dass die Kirche viel zu oft die Caritas außen vor hält. Warum suchen die Kirchengemeinden nicht viel stärker den Austausch mit der Caritas, um sich gemeinsam als lernende Institution zu verstehen? Die Kirche der Zukunft kann eine innerweltliche Friedensmacht sein, und dafür von ihrer Caritas lernen.
Das Interview führte Volker Hasenauer.