KNA: Der Weg vom Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zum Chef der Kunststiftung NRW scheint ein wenig weit.
Prof. Dr. Thomas Sternberg (Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Ist er aber nicht. Ich habe mich erstens immer schon im Bereich der Kulturpolitik engagiert. Und zweitens hat Kultur auch viel mit Religion und Theologie zu tun.
KNA: Inwiefern?
Sternberg: Sowohl im Kunsterlebnis wie im religiösen Erlebnis macht man sich in seinen Gefühlen und Gedanken frei. Ob man beides mit dem theologischen Begriff "transzendieren" umschreibt, ist mir eigentlich egal. Aber sich selbst zu übersteigen ist etwas, das in Kunst und der Religion gleichermaßen passiert.
KNA: Braucht unsere Gesellschaft dazu noch die Kirchen?
Sternberg: Gerade in der Corona-Zeit zeigt sich, dass der Zwang zur Selbstoptimierung an seine Grenzen kommt, wenn es um Tod und Krankheit geht. Es ist offensichtlich sehr schwer geworden, mit etwas umzugehen, worüber der Soziologe Hartmut Rosa als das "Unverfügbare" spricht.
Wie verhalte ich mich zu dem, was sich mir ereignet, ohne dass ich schuld bin oder ein anderer schuld ist? Bei der Sinnsuche kann mir der Glaube der Kirchen helfen. Und wenn es nur die eine Stunde Gottesdienst ist, in der ich außerhalb von Konsum und Produktion, von Nutzen und Effekt in einer anderen Welt leben darf.
KNA: Den Kirchen wurde in der Corona-Pandemie vorgeworfen, zu wenig Präsenz gezeigt zu haben. Wie sehen Sie das angesichts der vierten Welle, in der wir uns gerade befinden?
Sternberg: Wir haben gelernt, dass es auch andere Formen von Gemeinschaft geben kann, zum Beispiel auf digitalem Wege. Dass wir in der Hochphase der Pandemie keine Gottesdienste herkömmlicher Art abgehalten haben, hatte etwas mit Verantwortung für die Menschen zu tun.
Fraglos waren und sind wir mit dem Trost des Glaubens öffentlich zu wenig präsent. Davon abgesehen: Ich bin mir sicher, wenn es zum Beispiel beim vergangenen Weihnachtsfest zu einem Hotspot in einem katholischen oder evangelischen Gottesdienst gekommen wäre, wären die Zeitungen voll gewesen davon.
KNA: Klingt nach Medienkritik.
Sternberg: Ich habe in den vergangenen sechs Jahren meiner Amtszeit als ZdK-Präsident sehr engagierte Journalisten und Journalistinnen kennengelernt. Ich habe aber auch gemerkt, dass es so etwas gibt wie "Leitjournalisten", die ihre Deutung der Dinge vorgeben und denen manche Kollegen und Kolleginnen dann nachschreiben.
Auch deswegen, weil die Redaktionen personell immer weiter ausgedünnt werden. Das verstärkt die Bereitschaft, fremde, vermeintlich gut informierte Quellen kritiklos zu übernehmen. Aber ich sehe noch ein weiteres Problem.
KNA: Welches?
Sternberg: Die Social Media, die im deutschen Wortsinne häufig alles andere als sozial sind. Ich glaube, dass der Niedergang der öffentlichen Diskussionskultur viel damit zu tun hat, dass diese Medien nicht zuletzt Empörung und Skandalisierung schüren.
Nicht, dass sie einen starken unmittelbaren Effekt auf breite Bevölkerungskreise hätten; es sind längst nicht alle, die dort ständig unterwegs sind. Wer sie aber intensiv nutzt, sind Journalisten und Meinungsführer.
KNA: Wie ließe sich das Problem denn Ihrer Meinung nach in den Griff bekommen?
Sternberg: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch bei Twitter, Facebook und Co presserechtliche Regelungen wie bei den herkömmlichen Medien brauchen, die den Spagat zwischen Freiheit und Reglementierung schaffen - jenseits von jeder Zensur.
KNA: An was denken Sie konkret?
Sternberg: Wir werden irgendwann dazu kommen müssen, dass jeder unter seinem Klarnamen auftreten muss, und nicht mit irgendwelchen Nicknames. Wir müssen die Plattformanbieter in die Pflicht nehmen für das, was dort veröffentlicht wird. Zeitungsverleger können ja auch nicht sagen: Wir bieten nur das Papier und die Druckerschwärze - und was auf dem Papier steht, ist Sache von denen, die den Content liefern.
Solche Diskussionen geführt werden, auch wenn die sogenannte Netzgemeinde einen Shitstorm sondergleichen produzieren wird.
KNA: Hat der klassische Journalismus noch eine Zukunft?
Sternberg: Ich weiß nur eins: Die herkömmlichen Medien machen einen großen Fehler, wenn sie glauben, sie müssten die im Netz laufenden Skandalisierungswellen spiegeln. Ich frage mich, ob es für den professionellen Journalismus nicht wichtiger wäre, komplizierte Sachverhalte so zu erläutern, dass die Nutzer und Leser sie verstehen und sich ihre Meinung bilden können.
KNA: Zum Beispiel?
Sternberg: Indem man etwa erklärt, wie Debatten in der Kirche verlaufen, was lateinische Fachbegriffe wie "Responsum" oder "Dubia" bedeuten. Das ist viel wichtiger als nur zu sagen "Die Bonzen des Vatikans haben schon wieder ..." - das ist mir zu primitiv.
Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Politikberichterstattung, die zu schnell bei der Meinung ist ohne die Sachverhalte hinreichend darzustellen. Da wird zudem häufig nur noch wahrgenommen, was in Berlin passiert. Dass etwa Kultur- und Wissenschaftspolitik Ländersache oder vieles andere europäische Angelegenheit sind, fällt oft unter den Tisch.
KNA: Das Gegenargument lautet, dass sich die meisten Medienkonsumenten für komplexere Zusammenhänge gar nicht mehr interessieren.
Sternberg: Das sehe ich nicht so. Viele Menschen haben ein massives Interesse an Hintergrundinformationen, die über das hinausgehen, was sich bei Wikipedia abrufen lässt - aber in einer Sprache, die sie erreicht.
Die sorgfältig recherchierte Reportage und die Sachdarstellung werden vor allem in den Medien wichtiger werden, die eine hohe Reputation haben. Allerdings sind die Verkleinerungen der Redaktionen dort ein ernstes Problem.
KNA: Könnte eine staatliche Förderung den Journalismus aus dem Kreislauf von Sparrunden und thematischer Verflachung befreien?
Sternberg: Davon halte ich nichts. Der Journalismus sollte so unabhängig wie möglich bleiben. Und er muss auch weiterhin ein Geschäft sein, mit dem man Geld verdienen kann. Wir werden uns allerdings aus der Gutenberg-Galaxie zunehmend verabschieden müssen.
Wer seine Erlöse nicht im Netz erzielt, wird es künftig schwer haben.
Das Interview führte Joachim Heinz.