Köln im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Reformation. Das ist eines der meistbestellten Felder der rheinischen Geschichtsschreibung. Doch warum blieb Köln unter den großen Freien Reichsstädten die einzige, die nicht zumindest zeitweilig von der Reformation erfasst wurde? Der renommierte französische Historiker und Kulturpolitiker Gerald Chaix erklärt es - und noch vieles mehr.
Am Dienstag stellte er einen neuen Band der auf 13 Bände angelegten großen Kölner Stadtgeschichte vor. Es ist ein großer Wurf geworden.
In einer Art "Dornröschenschlaf"
Als ein "wirkmächtiges Narrativ von Pfaffentum und Niedergang" bezeichnete der Leiter des Greven-Verlags, Damian van Melis, die weit verbreitete These, Köln habe sich im 16. Jahrhundert in einer Art "Dornröschenschlaf" befunden, der erst durch den Untergang des Ancien Regime im Zuge der Französischen Revolution beendet worden sei.
Tatsächlich zeichnet Chaix in vorbildlicher Quellenvielfalt das Bild einer lebendigen Stadt auf ihrem Weg in eine neue Zeit.
Chaix, Jahrgang 1947 und als Historiker eine Art Berufspendler zwischen Frankreich und Deutschland, betont, sein erklärtes Ziel sei von Anfang an gewesen, nicht in einer Art Gesamtschau nur die gängigen Klischees neu zu erzählen. Stattdessen beeindruckt, wie er eine Fülle von Einzelaspekten "kontextualisiert" - und damit das komplexe Leben der 40.000-Einwohner-Stadt zugänglich macht.
Ein Beispiel: Schon damals erlebte Europa eine Klimaverschlechterung, die sogenannte "Kleine Eiszeit": Missernten, periodische Hungerkrisen, Überschwemmungen und explodierende Preise waren die Folgen. Pandemien wie die Pest wüteten. In der Stadt ging zeitweise der Wein aus. Fließendes Wasser gab es nicht, Schweine liefen durch Köln. Schmutz und Tod waren allgegenwärtig - ein Grund, warum etwa Reliquien- und Heiligenverehrung immer noch vielen Menschen als Anker zum Himmel dienten. Chaix spricht von einem allgegenwärtigen Gefühl eines "Endes der Geschichte"; eine Verunsicherung der Zeit, in die zum Beispiel auch der polternde Martin Luther hineinsprach.
Wissenschaftlich differenziert, aber gut lesbar: Diesen Anspruch an sich selbst hat der Autor eingelöst; eben weil er nicht nur Religions-, Wirtschafts-, Sozial- und Kunstgeschichte als Einzeldisziplinen abarbeitet, sondern die vielen Facetten des Lebens zu einer Globalgeschichte der Stadt verflicht.
Migration war eine prägende Realität
Ja, die konfessionelle Auseinandersetzung prägt das 16. Jahrhundert in Köln. Aber eben auch noch unendlich mehr: Die Renaissance hält Einzug in den Köpfen, in Bauten und Kunstwerken. Der Kunstmarkt boomt. Der Bürgerwille reibt sich mit Obrigkeiten und auswärtigen Mächten. Es geht um Handel und Luxusgüter, auch um Technik und Neue Medien: Druckereiwesen und Kartografie breiten sich aus, auch und gerade in einer Stadt vom Kaliber Kölns. Der Leser erfährt über Federbetten und Kissen, über pelzgefütterte Schlafmützen und andere neueste Moden wie Strickunterhosen aus Wolle.
Nicht nur Pandemie, Inflation und Klimawandel sind damals Themen, die den Alltag bestimmen und den Menschen heute in den Ohren klingen.
Auch Migration war eine prägende Realität im Köln des 16. Jahrhunderts. Kriegs- und Glaubensflüchtlinge etwa aus den Niederlanden strömten in die Stadt. Und sie brachten neben gesellschaftlichem Spannungspotenzial (Fremdenfeindlichkeit) auch einen ordentlichen Kreativitätsschub mit - waren doch viele von ihnen innovativ und bestens ausgebildet: Kupferstecher etwa oder Instrumentenbauer für Orgeln, Lauten und Gamben.
Es ist ein Glücksfall für das ambitionierte Buchprojekt, dass bei dem nun vorgelegten Band 5 nicht nur - wie bei den anderen Bänden auch - ein ausgewiesener Kenner Kölns an der Feder war, sondern zugleich auch ein französischer Wissenschaftler mit weitem Blick. Dass es tatsächlich dazu kam, war keineswegs ausgemacht. Denn der Historiker Chaix wechselte vor dem Ende seiner internationalen Professorenkarriere in die Kulturpolitik. Sein Job als regionaler Bildungsminister im Elsass bedingte, dass er sich dann erst nach seiner Pensionierung noch einmal seiner lebenslangen Forschungspassion Köln widmen konnte. Es hat sich wahrlich gelohnt.