Deutsch-südafrikanischer Bischof zum Tod von Desmond Tutu

"Wer neutral ist, ist für die Unterdrücker"

Theologe mit Weltruf, radikaler Solidarität verpflichtet und Friedensnobelpreisträger. Das alles war Desmond Tutu. Anlässlich seines Todes wird sich an seinen Charakter, sein Wirken und seine Botschaft erinnert.

Desmond Tutu, em. anglikanischer Erzbischof von Kapstadt, am 16. April 2015 in Lübeck. (Archiv) / © Marco Heinen (KNA)
Desmond Tutu, em. anglikanischer Erzbischof von Kapstadt, am 16. April 2015 in Lübeck. (Archiv) / © Marco Heinen ( KNA )

KNA: Herr Bischof, haben Sie Desmond Tutu persönlich gekannt?

Michael Wüstenberg (67, emeritierter Bischof von Aliwal in Südafrika): Ich habe ihn 2014 persönlich getroffen bei der Beerdigung des katholischen Erzbischofs von Kapstadt. Es war eine sehr angenehme Begegnung. Auch wenn die katholische Kirche in Südafrika zahlenmäßig größer ist als die anglikanische: Desmond Tutu war die große Stimme der Christen in Südafrika. Minderheitenstatus steht Größe nicht entgegen.

KNA: Seit 2020 verbinden viele mit Südafrika den Zulu-Kultsong "Jerusalema", der das himmlische Jerusalem besingt. Ist Desmond Tutu jetzt in "Jerusalema"?

Wüstenberg: Daran hat er fest geglaubt. Und ich bin überzeugt: Desmond Tutu ist jetzt dort, wovon der Song "Jerusalema" handelt. "Jerusalema" hält die Hoffnung wach, die Grundlage seines Lebens war.

KNA: Woran denken Sie bei Desmond Tutu?

Wüstenberg: An einen Mann, der lauter Demütigungen erfahren hat - und trotzdem mit Humor durchs Leben gegangen ist. Mit Nelson Mandela ist er die zweite große Ikone im Anti-Apartheid-Kampf. Und er hat dafür den Friedensnobelpreis schon vor Mandela bekommen.

KNA: Desmond Tutu war auch nach der Apartheid mit Südafrikas Politik sehr unzufrieden. Hat die Revolution ihre Ideale verraten?

Wüstenberg: Wie so oft im Leben entfernen sich Ideale und Wirklichkeit. Ich weiß noch genau, wie einige Jahre vor der Beerdigung von Nelson Mandela 2013 der Friedensnobelpreisträger Dalai Lama Desmond Tutu besuchen wollte. Doch die südafrikanische Regierung gab ihm kein Visum - aus Rücksicht auf China. Das hat sich dann 2014 wiederholt: 2014 sollte es ein Treffen der Friedensnobelpreisträger in Kapstadt geben. Vom Freiheitsdrang der Anti-Apartheid-Bewegung war da nicht mehr viel zu sehen. Wie viele Länder hat auch Südafrika mit Korruption, internen Machtkämpfen und noch dazu mit extremer Ungleichverteilung von Wohlstand zu tun.

KNA: Wofür wird Desmond Tutu in Erinnerung bleiben?

Wüstenberg: Mir bleibt sein Bild von der "rainbow nation", der Regenbogennation, in der alle Menschen Platz haben - egal, welche Hautfarbe sie haben. Mir gefällt das Regenbogenbild auch deshalb gut, weil Schwarz und Weiß ja nicht Teil des Regenbogens ist und die Klischees über Hautfarben so auch etwas konterkariert werden. Wir in Europa dürfen hier ruhig selbstkritischer werden: Auch bei uns gibt es Rassismus, mal offener, mal subtiler. Wir müssen daran arbeiten: an den Regenbogennationen Europas, ja einer Regenbogen-Welt - und dabei die weltweite Ungleichverteilung der Güter umorganisieren.

KNA: Wie stark war Tutus Versöhnungsgedanke christlich motiviert? Oder war das auch Pragmatismus: Ohne Versöhnung kommen wir nicht weiter?

Wüstenberg: Desmond Tutu war ein interreligiös offener Mensch. Als anglikanischer Christ und Erzbischof hat er zutiefst an die Kraft von Versöhnung aus einem tiefen christlichen Glauben heraus geglaubt. Versöhnung gehört ja fundamental zum Christentum. Und das ist eine Anregung, die uns Tutu auch heute noch gibt: Welche Charismen haben wir als Kirche, um Wunden zu heilen? Versöhnung ist nicht etwas, was im Beichtstuhl eingesperrt werden kann. Sondern etwas, an dem wir als Christen in der Gesellschaft intensiv mitarbeiten sollten.

KNA: Nun sind viele Nachrufe zu lesen. Gibt es einen Aspekt, der Sie besonders berührt?

Wüstenberg: Desmond Tutu war an Krebs erkrankt - und hat trotzdem über viele Jahre nach seiner Emeritierung so Vieles geleistet. Das ist ein mutmachendes Zeichen für alle Menschen, die vor einer schweren Erkrankung stehen. Eine Diagnose ist nicht das Ende, sondern danach ist oft noch ganz viel möglich.

KNA: Welche Botschaft Tutus für das Hier und Jetzt erscheint Ihnen besonders wichtig?

Wüstenberg: Es gibt keine Neutralität. Wer neutral ist, entscheidet sich für die Seite der Unterdrücker. Wenn man diesen seinen Satz mit Leben füllt, dann ist kein Wegschauen mehr möglich, auch kein Abwägen. Tutus Leben steht für eine radikale Solidarität und eine radikale Parteinahme - aber stets ergänzt mit dem Willen zu Dialog und Versöhnung.

KNA: 2021 sind zwei Theologen von Weltruf gestorben: Hans Küng und Desmond Tutu. Wer sind für Sie die neuen Theologen von Weltruf?

Wüstenberg: Ich habe vor ein paar Jahren in Brasilien eine ähnliche Frage gestellt: Wer sind die neuen, strahlenden Sterne am theologischen Himmel? Ich sehe viele gründliche Arbeiter, aber wenige leuchtende Ikonen. Desmond Tutu war so eine leuchtende Ikone. Er teilt mit Hans Küng jetzt das Sterbejahr. Die beiden haben übrigens nicht nur das Anliegen des Weltethos geteilt. Tutu hatte sich ähnlich wie Küng für selbstbestimmtes Sterben ausgesprochen - davon dann aber meines Wissens ebenfalls nicht Gebrauch gemacht. Auch das ist ein Bereich, wo wir noch kreativer und besser nachdenken sollten. Konkret denke ich an Palliativpflege als Hilfe, um Menschlichkeit und Menschenwürde im Sterben zu erreichen.

Das Interview führte Raphael Rauch


Bischof Michael Wüstenberg / © Johannes Schidelko (KNA)
Bischof Michael Wüstenberg / © Johannes Schidelko ( KNA )
Quelle:
KNA