DOMRADIO.DE: Sie glauben nicht an einen kurz bevorstehenden Angriff der Russen. Warum nicht?
Christine Hoffmann (Generalsekretärin der katholischen Friedensbewegung Pax Christi): Dialog statt militärischer Eskalation war genau das Motto, das Pax Christi eingefordert hat. Und ehrlich gesagt, habe ich diese Woche auch schon Dankesbriefe an den Bundeskanzler, an die Außenministerin und an die Verteidigungsministerin geschrieben, dass sie aus Deutschland genau diese Dialog-Strategie fahren. Auf Deeskalation setzen und sich zum Beispiel nicht haben provozieren lassen, Waffen in die Ukraine - was ein Krisengebiet ist - zu liefern.
Also diejenigen, die deeskalierend wirken und die im Moment fahren und sprechen, haben, das zeigt im Moment die aktuelle Situation, tatsächlich Erfolge erzielt und eine Deeskalation erwirkt. Insofern bin ich im Moment eigentlich zuversichtlich, dass das gute Schritte bringen wird und eben keine zusätzliche Kriegssituation.
DOMRADIO.DE: Also hat Deutschland Ihrer Meinung nach in diesem Konflikt bisher alles richtig getan oder gäbe es da auch noch Verbesserungspotenzial?
Hoffmann: Es gibt immer Verbesserungspotenzial. Erforderlich ist, dass Deutschland in der NATO auch noch mal andere Schritte einfordert. Also aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die NATO nicht nur den Schwarzen Peter nach Russland schiebt, sondern auch einsieht, dass provozierende Schritte passiert sind. Dass es eine Provokation für Russland ist, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO diskutiert wird. Dass Russland die gesamte NATO-Osterweiterung als Bedrohungsszenario wahrnimmt.
Es ist einfach wichtig, dass die gegenseitigen Bedrohungsszenarien erst mal ernst genommen werden. Die muss man ja nicht teilen. Aber wenn man keinen Krieg will, sondern wenn man zusammen Sicherheit organisieren will, dann muss man erst mal ernst nehmen, was der andere wahrnimmt und darüber sprechen. Insofern wäre jetzt die nächste Aufgabe in der NATO miteinander darüber zu reden, wie eigentlich eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur aussehen kann, wo die Ukraine auch mit drin ist, wo Russland auch mit drin ist und welche die ganzen Sorgen von Lettland und all diesen Ländern auch ernst nimmt.
DOMRADIO.DE: Was steckt Ihrer Meinung nach aktuell hinter dieser aufgeheizten Stimmung?
Hoffmann: Das ist schon eine riesige Provokation, wenn hunderttausend Soldaten an einer Grenze aufmarschieren. Dieses Manöver dort zu machen, ist in der Situation einfach provozierend. Nur gleichzeitig war das geplante NATO-Manöver "Defender", was auch ganz nah an der russischen Grenze hätte stattfinden sollen, ein provozierender Schritt - also die beiden schaukeln sich da hoch. Natürlich sind das Provokationen.
Das Problem ist, dass viele Rüstungskontrollvereinbarungen inzwischen nicht mehr funktionieren. Und da muss einfach wieder her, dass alle Gesprächsformate zwischen NATO und Russland, zwischen EU und Russland wieder gestärkt werden, dass man miteinander redet, dass man auch mal telefoniert, dass man voneinander weiß, was geplant ist und diese Abschreckung durchbrochen wird.
Im Moment werden die Manöver auch als Abschreckung eingesetzt. Und davon geht nichts Gutes aus. Das Problem scheint mir im Moment auch die Frage, wer in der Welt das große Sagen hat. Aus Amerika ist viel gesagt worden, dass Russland eine Bedrohung sei und es schief gehe, dass die Russen in die Ukraine einmarschieren.
Ich glaube, die möchten auch ein bisschen ablenken von ihrer eigenen Schwäche. China ist inzwischen wirtschaftlich viel stärker geworden. Und das ist sowohl für Russland als auch für Amerika eine völlig neue Situation. Die wollen beide auch Weltmächte sein. Und die Frage ist: Wie geht man in der Welt damit um und wie findet man neu zueinander. Es sind nicht mehr die alten Verhältnisse.
DOMRADIO.DE: Heute haben das russische Verteidigungsministerium und der Kreml in Russland angekündigt, dass Truppen von der Grenze der Ukraine abgezogen werden sollen und somit die Anzahl der Soldaten reduziert wird. Kiew hält damit vorerst eine Eskalation für abgewendet. Beruhigt sich auch Ihrer Meinung nach die Lage?
Hoffmann: Ich würde für alle Beteiligten sehr hoffen, dass sich die Lage beruhigt. Das wäre doch genau ein guter Ausgang und das wäre eine gute Ausgangsbasis, um tatsächlich anzufangen neu zu denken, Gespräche zu intensivieren, - das, was jetzt aufgebaut worden ist - und tatsächlich Europa zusammen zu denken. So dass Europa nicht der Austragungsort von Konflikten werden könnte, die von ganz woanders herkommen.
Und ich bin davon überzeugt, die Menschen im Osten der Ukraine sind auch froh, dass es sich nicht weiter zuspitzt. Wir dürfen das nicht aus den Augen verlieren. Seit 2014 ist im Osten der Ukraine Krieg. Da mussten viele Menschen ihr Zuhause verlassen, sind innerhalb der Ukraine geflohen, was nicht leicht ist, weil man dann plötzlich sein Haus, seine Wohnung, seinen Arbeitsplatz nicht mehr hat. Schon allein für diese Menschen wünsche ich mir sehr, dass die Eskalation wirklich abgewendet ist und ich hoffe, dass da Ruhe einkehrt, denn das ist die eigentliche Herausforderung: den Krieg im Osten der Ukraine, der da herrscht, auch zu beenden.
Das Interview führte Florian Helbig.