DOMRADIO.DE: Wie würden Sie die Rolle der Kirche in der Pandemie einordnen? Vorbildlich voranschreitend oder eher ängstlich und verzagt?
Thomas Holtbernd (Theologe, Philosoph und Psychologe): Wahrscheinlich weder noch. Was die Kirchen ausgemacht hat, war, dass zum ersten Mal eine solche Krankheit nicht als Strafe Gottes bezeichnet worden ist – wie das noch bei HIV war. Gleichzeitig war den Kirchen klar, dass sie in der säkularen Gesellschaft kaum noch eine Bedeutung haben. Sie haben sich dann in der Pandemie der Pastoralmacht des Staates unterstellt und wollten jetzt, so deute ich das, um überhaupt eine Berechtigung in der Gesellschaft noch zu haben, sich als besonders treue Staatsdiener andienen.
Das hat bei vielen Gläubigen dazu geführt, dass sie gesagt haben, sie hätten eigentlich ein religiöses Angebot von der Kirche erwartet. Das ist in dem Empfinden vieler Menschen nicht gewesen, sondern die haben nur erfahren: Die Kirchen werden geschlossen, obwohl ich doch gerade jetzt einen Raum gebraucht hätte, wo ich sein darf mit meinen Sorgen.
DOMRADIO.DE: Es gibt aber auch Stimmen, die erwidern, gerade in der Pandemie hätten die Kirchen durch neue Formen der Seelsorge auch so ein bisschen Innovation gezeigt. Wie sehen Sie das?
Holtbernd: Das sehe ich überhaupt nicht so. Allenfalls hat sich ergeben, dass sich Gruppen von glaubenden Menschen zusammengetan haben und in Kleingruppen dann etwas getan haben. Ich glaube, dass die Kirche durch die Missbrauchsgeschichten eine ungeheure Berührungsangst entwickelt hat. Jeder Kontakt kann etwas Schlimmes sein, ist sexualisiert. Und da kommt es der Kirche durchaus entgegen bzw. den Menschen, die dort sind, wenn man Abstand halten muss, wenn man so ein Verhüterli vorm Mund hat, wenn man sich die Hände desinfiziert. Das ist wie so ein Sich-Freihalten von diesen sexuellen Berührungen, vor denen man eine ungeheure Angst hat.
DOMRADIO.DE: Im ersten Lockdown vor bald zwei Jahren gab es kaum Diskussionen, dass auch öffentlich gefeierte Gottesdienste ausgesetzt wurden, auch an Ostern. Da waren sich alle einig. Danach gab es aber immer wieder vor den großen Festen wie Weihnachten oder Ostern Diskussionen über den freiwilligen Verzicht auf öffentliche Gottesdienste. Nicht zuletzt, weil der Druck aus der Gesellschaft auch größer geworden ist. Wie haben Sie diese Situation beobachtet?
Holtbernd: Ich habe den Druck aus der Gesellschaft gar nicht so erlebt. Es gab natürlich vor allem die Freikirchen, die ja so ein Happening gemacht haben und wo es auch Infektionen gab. Aber man hätte das durchaus machen können mit entsprechenden Maßnahmen, die auch möglich gewesen wären. Für mich ist aber nicht so sehr entscheidend, was jetzt real möglich gewesen wäre, sondern wofür das ein Zeichen war. Und ich glaube – das haben auch einige Bischöfe sicherlich eingesehen: Die Pandemie hat das verstärkt und beschleunigt, was sowieso schon in Kirchen in Bewegung war. Nämlich weg von Kirche, Kirche bietet uns nicht mehr das, was wir brauchen in dieser modernen, komplexen Welt.
DOMRADIO.DE: Die Pandemie scheint ja möglicherweise ihrem Ende entgegen zu gehen. Was wird in den Kirchen sowohl an positiven als auch an negativen Elementen zurückbleiben?
Holtbernd: Ich glaube, dass die Gläubigen, die sich zusammengefunden haben in kleinen Kreisen, dass das intensiviert wird und dass auch die Orientierung an Klerikern, an Kirche als Institution gar nicht mehr wichtig ist für viele Gläubige, sondern dass sie das selber machen können. Ich bin selber religiös und dafür brauchen Sie den Raum der Kirche und die Kleriker nicht mehr. Was negativ zurückbleibt, ist sicherlich dieses Bild einer gescheiterten Kirche, die es nicht verstanden hat, aus einem Missbrauchsskandal etwas zu machen, die vorbildlich war in Aufarbeitung. Das bleibt mit der Pandemie verbunden, so glaube ich, weil die Ereignisse ja auch in gewisser Weise zusammentrafen.
Da hat Kirche es nicht geschafft, in irgendeiner Weise konstruktiv zu sein, sondern hat im Grunde genommen das ganze Spiel weitergemacht und hat mit den Maßnahmen, die besonders streng waren, auch letztendlich eine Verschiebung vorgenommen. Man beschäftigt sich jetzt damit, dass man das ganz besonders gut einhält und vorbildlich ist. Das ist ein Verschieben der Problematik auf diese Äußerlichkeiten. Und die Angst, dass die Kirche untergeht, ist deutlich zu sehen. Das zeigt sich in der Pandemie sehr deutlich. Und dieser Angst hat man zumindest von offizieller Seite glaube ich nicht viel entgegenzusetzen.
Das Interview führte Michelle Olion.
Weitere Hinweise:
Thomas Holtbernd: Verantwortliche Gelassenheit, Freiheit in Zeiten der Krise, echter verlag