Kultursoziologischer Blick auf Karneval

"Fastnachtfeiern muss eingeübt sein"

Für die einen ist es ein Gemeinschaftserlebnis der Lebensfreude, für die anderen ein hemmungsloses Besäufnis in komischer Klamotte. Der Soziologe Clemens Albrecht wirft einen kultursoziologischen Blick auf die närrischen Tage.

Autor/in:
Nicola Trenz
Karnevalisten / © Fabian Strauch (dpa)
Karnevalisten / © Fabian Strauch ( dpa )

Katholische Nachrichtenagentur (KNA): Herr Albrecht, Karneval wird in der gewohnten Form auch in diesem Jahr nicht stattfinden. Was bedeutet das aus dem Blickwinkel eines Kultursoziologen?

Clemens Albrecht: Ich lebe lange genug im Rheinland, um zu verstehen, welche Katastrophe es für die Menschen bedeutet, wenn Karneval zum zweiten Mal ausfällt. Karneval ist dort ja kein Brauch, an dem man teilnehmen oder nicht teilnehmen kann, sondern Karneval ist im Rheinland eine Sitte. Das heißt: Man muss daran teilnehmen, wenn man dazu gehören möchte.

Karneval in Kölle am Rhing (shutterstock)

KNA: Was passiert mit karnevalistisch geprägten Gesellschaften, wenn dieses Fest nicht stattfindet?

Albrecht: Das ist schwer zu beobachten. Ich nehme an, dass vieles verdrängt wird. Man kann nicht einsam lustig sein. Es geht ebenso wenig, den Karneval digital zu feiern. Ohne leibliche Anwesenheit kann man nicht die Stimmung erzeugen, die man gemeinsam im Festsaal hat. Auch die öffentlichen Ausnahmezustände, die mit den Rosenmontagszügen und ähnlichem verbunden sind, lassen sich nicht nachholen. Es ist so, als ob Weihnachten ausfallen würde, ein vollkommen offenes Experiment an der Gesellschaft. Welche Verwerfungen das in drei oder vier Jahren dann erzeugt hat, das können wir heute noch nicht sehen.

KNA: Welche Funktion hat dieser karnevalistische Ausnahmezustand, den sie gerade angesprochen haben?

Albrecht: Alle Regeln werden am besten bestätigt, wenn es Zeiten gibt, in denen sie nicht gelten. Ich nenne ein einfaches Beispiel: Meine Kinder mussten in einem bestimmten Alter lernen, sich bei Tisch gut zu benehmen. Um diesen Regeln Geltung zu verschaffen, habe ich einen Tag eingeführt, an dem sie sich nicht an die Tischregeln halten mussten: den "Schweinetag". Sie haben dann mit Wonne die Ellbogen auf die Tische gelegt und laut geschlürft. Irgendwann fanden sie den Regeldurchbruch dann nicht mehr lustig, sondern selbst eklig - und dann haben sie sich an die Regeln gehalten.

Das gilt auch in der Gesellschaft: Die Regelsuspendierung bestätigt die Geltung der Regeln: Man kann sich leichter daran halten, wenn es Zeiten gibt, in denen diese Regeln nicht gelten.

KNA: Wie ist es mit Regionen, in denen Fastnacht, Karneval & Co. lediglich für einen Teil der Menschen eine Rolle spielt?

Albrecht: Es gibt in Deutschland Fastnachtsregionen und Nicht-Fastnachtsregionen. Faszinierend ist: Wenn sich Fastnachtskulturen ausbreiten, beziehen sie eigentlich immer mehr Menschen mit ein. Aber die müssen das ausgelassene Feiern auch erst lernen. Dann gibt es etwa einen Umzug und Versuche, diese Tradition zu etablieren. Das ist meistens am Anfang aber nicht sehr lustig, weil die Leute diese spezielle Feierkultur noch nicht kennen. Fastnachtfeiern muss auch eingeübt sein. Die Rheinländer können das besonders gut, die Alemannen auch.

Bonner Soziologieprofessor Clemens Albrecht

Feierkultur kann man also eher mit dem Katholizismus assoziieren, weil er das Aussetzen von Regeln in bestimmten Situationen eher duldet als der neuzeitliche Gewissensprotestantismus.

KNA: Regionen, die nicht Karneval feiern, haben aber dennoch zu anderen Zeiten im Jahr eine ritualisierte Festkultur, also zum Beispiel Kirmes oder Kirchweih.

Albrecht: Ja, das können unterschiedliche Formen sein. In Bayern spielt zum Beispiel die Oktoberfestzeit eine große Rolle, um dieses Aussetzen von Regeln geltend zu machen, an anderen Orten die Starkbierfeste. Da haben unterschiedliche Regionen unterschiedliche Anlässe: der Zweck bleibt gleich.

Nur die protestantischen, vielleicht sogar calvinistisch geprägten Regionen stehen solchen Feierkulturen eher fern. Sie stellen eigentlich das ganze Jahr über die Anforderung an das Individuum, die Regeln einhalten zu müssen. Das macht den Unterschied aus. Feierkultur kann man also eher mit dem Katholizismus assoziieren, weil er das Aussetzen von Regeln in bestimmten Situationen eher duldet als der neuzeitliche Gewissensprotestantismus.

KNA: Welche Rolle spielen Alkohol und Rausch?

Albrecht: Der Rausch spielt eine enorm große Rolle. Er macht es möglich, sich von den inneren Zwängen der Regeln zu befreien. Regeln funktionieren nicht deshalb, weil laufend kontrolliert wird, ob wir sie einhalten. Regeln funktionieren, weil wir sie verinnerlicht haben - wie meine Kinder die Essensregeln. Wir haben das so weit in unseren selbstverständlichen Handlungshorizont mit eingebaut, dass wir gar nicht anders können, als uns an diese Regeln zu halten. Alkohol führt dann dazu, dass wir eine innere Distanz zu den Regeln gewinnen. Im Rausch können wir Vieles tun, wofür wir uns sonst schämen würden.

Alkoholkonsum an Karneval  / © Oliver Berg (dpa)
Alkoholkonsum an Karneval / © Oliver Berg ( dpa )

KNA: Auch jenseits von Karneval und anderen Volksfesten gibt es Geselligkeit. Warum ist sie so wichtig?

Albrecht: Geselligkeit ist eines der Grundprinzipien unserer modernen Gesellschaft: Wir verbinden uns dabei sehr persönlich mit anderen Menschen jenseits von Zwecken. Als Mitglieder einer Familie, als Schwaben, Sachsen, Rheinländer oder Hamburger sind wir geboren worden. Aber als Individuen suchen wir andere Menschen, mit denen wir ähnlich intensive persönliche Beziehungen pflegen können: Freundschaften, Kontakt mit Gleichgesinnten oder schlicht und einfach einen sozialen Kreis, in dem wir fröhlich und lustig sein können, ohne durch Beruf oder andere Zwänge verbunden zu sein.

Genau das erfüllt die Geselligkeit: den Kontakt zu Fremden, mit denen man aber Beziehungen aufbaut, die so persönlich sein können wie mit Familienmitgliedern. In der Geselligkeit erlebt sich der Mensch ganz als soziales Wesen.

Quelle:
KNA