DOMRADIO: Wie haben Sie denn auf die Nachricht reagiert, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist an Weiberfastnacht?
Dr. Wolfgang Oelsner (Psychotherapeut und Karnevalsexperte): Ich denke, so wie alle: mit Entsetzen, mit Trauer und mit Fassungslosigkeit.
DOMRADIO: Es ist ja diese Hilflosigkeit, die uns Menschen umtreibt. Wir hören es, wir können aber nicht viel machen. Wie können wir mit dieser Hilflosigkeit umgehen?
Oelsner: Es gibt aus der Traumatherapie einige Faustregeln und ich glaube, einiges können wir so ganz vereinfacht übertragen. Ich nenne Ihnen mal diese drei Faustregeln. Erstens: Tue etwas, tue nicht nichts. Die Decke über den Kopf zu ziehen, sich ins Bett zu legen, das bringt nichts. Das zweite: Vergemeinschafte dich, bleibe nicht alleine, suche Kontakt mit anderen. Und das dritte: Sprich' darüber und erzähle, was dich bedrückt.
Wenn man diese drei Dinge im Blick hat, dann macht man nicht viel falsch. Ob das nun auf hohem Niveau eines Lesers der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ ist oder ob man nun auf dem Markt mit dem Nachbarn spricht oder wie man in Kölle sät "de Schnüss geschwad wäd" (wie einem der Schnabel gewachsen ist) – das ist ja zweitrangig. Und wenn wir uns über den Karneval unterhalten, haben wir da noch ein Pfund mehr, mit dem wir wuchern können.
DOMRADIO: Ich habe einige Freunde, die sagen "wir fühlen uns eigentlich im Moment nicht so nach Karneval. Aber andererseits wollen wir uns die Stimmung von Putin oder von diesem Krieg nicht versauen lassen." Der soll keine Macht haben über unser Leben.
Oelsner: Na ja, dazwischen schwankt das Ganze ja. Beide Gefühle sind da und da gibt es keinen Königsweg. Man kann den Menschen nur raten: Bleibt authentisch, bleibt ihr selbst. Ihr müsst euch nichts abringen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Man ist nicht unsensibel, wenn man im kleinen Kreis alles für einen Moment vergisst und gemeinsam etwas singt oder tanzt. Das ist kein Widerspruch, dass das andere auch da sein kann.
Man kann empathisch sein, da wo es passt, kann aber auch Kräfte sammeln in anderen Momenten. Wem danach nicht zumute ist, der soll sich das um Himmels Willen nicht abringen und meinen, er müsste eine Pseudo-Lustigkeit an den Tag legen. Also authentisch bleiben ist in solchen Momenten ganz wichtig. Gucken, was machen die anderen, wie ist denen zumute – das meine ich mit Vergemeinschaftung. Nicht nur alleine grübeln.
DOMRADIO: Gerade Kinder und Jugendliche kennen Karneval als Tage, an denen es etwas fröhlicher und trubeliger zugeht. Jetzt ist die Stimmung sehr gedrückt. Welche Möglichkeit hat man, Kinder und Jugendliche mitzunehmen und denen die Angst zu nehmen?
Oelsner: Zunächst können sie daran wachsen. Das kann man ja nicht vermeiden im Leben. Es kann auch in Friedenszeiten ein wunderbarer, toller, ausgelassener Karneval in der Region herrschen, aber am Tag davor ist der Opa gestorben. Dann ist die Welt für diesen Jugendlichen an diesem Wochenende auch anders. Damit lernen wir Menschen umzugehen. Jetzt ist im Kollektiv diese Trauernachricht aufgeploppt und wir alle sind davon betrübt. Man kann lernen, damit umzugehen. Das ist eine Riesenfrustration, das ist aber keine traumatische Einwirkung.
Das gehört zum Leben dazu und man muss gucken, wie man sich dann positioniert. Und wenn bei einer traurigen Meldung in der eigenen Verwandtschaft einem danach zumute ist, sich auch mal für einen Moment abzulenken, wird man dem Jugendlichen keine Vorwürfe machen. Dieses Aufgesetzte und sich um jeden Preis von morgens bis abends irgendwo die Kante zu geben, das war und ist auch in Friedenszeiten und glücklicheren Zeiten nie eine gute Feierkultur. Es ist gar keine Feierkultur.
DOMRADIO: Jetzt hat der Kölner Karneval sich ja dazu entschlossen, das Rosenmontagszug-Fest im Stadion abzusagen. Stattdessen soll es eine Friedensdemonstration geben. Wie bewerten Sie das als Karnevalsexperte? Ist das die angemessene Reaktion?
Oelsner: Nicht nichts tun, ja, und der große organisierte Karneval kann auch nichts tun. Das Rosenmontagszug-Fest im Stadion wie geplant stattfinden zu lassen hätte für Bilder gesorgt, die wir hier verstanden hätten, die aber im übrigen Teil der Welt kaum zu verstehen gewesen wären. Jetzt etwas zu machen, wo man auch mit karnevalesken Attributen seiner Emotion Ausdruck verleiht, das kann der Karneval.
Karneval ist ein Ventil mit den Emotionen anders, unverstellter umzugehen als das sonst im Alltag ist. Das zu organisieren und dazu aufzurufen ist eine Möglichkeit, aus dieser Ohnmacht herauszukommen.
Das Interview führte Gerald Mayer.