DOMRADIO.DE: Was genau ist ein humanitärer Korridor und wie würde er im Fall der Ukraine funktionieren?
Pfr. Dr. Matthias Leineweber (Zweiter Vorsitzender Sant'Egidio Deutschland): Ein humanitärer Korridor ist eine sehr schnelle Lösung, um Kriegsflüchtlingen die Einreise nach Europa unkompliziert auf legalem und sicherem Weg zu ermöglichen, um dann in Europa aufgenommen und begleitet zu werden, das Asylverfahren durchzuführen oder gleich einen Schutzstatus zu bekommen, um sich möglichst schnell hier zu integrieren und aufgenommen zu werden. Wichtig ist, dass es eine legale, kontrollierte Einreise ist und natürlich eine sichere Reise, dass man nicht Schlepper in Anspruch nehmen muss, wie das leider manchmal geschieht, wenn es da keine Regelungen gibt.
DOMRADIO.DE: Anders als bei Flüchtlingen aus Nahost oder Afrika sieht es im Moment in Sachen Flüchtlingshilfe ganz gut aus, auch was legale Möglichkeiten angeht. Wie schätzen Sie da die aktuelle Situation ein?
Leineweber: Das könnte eine Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik sein, wenn wir jetzt diese humanitären Korridore auf europäischer Ebene einführen, weil es die Erfahrungen für die Flüchtlinge gibt, die zum Beispiel aus Syrien oder aus Somalia, aus Äthiopien und dem Libanon nach Italien oder Frankreich gekommen sind. Das hat sich bewährt. Dieses Modell, so schlägt Sant'Egidio vor, könnten wir jetzt auf ganz Europa umsetzen, auch um voranzukommen, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik zu entwerfen.
DOMRADIO.DE: Sant'Egidio ist international aktiv, auch in der Ukraine. Wie genau und wo?
Leineweber: Wir sind hauptsächlich in den Städten Kiew und Lemberg aktiv und sind dabei, auch zu gucken, wer gerade besondere Hilfe braucht. Wir haben oft Einsätze für die Bedürftigen, für Obdachlose, für Alleinstehende oder alte Menschen. Das ist natürlich jetzt extrem schwierig, sie dort zu versorgen. Aber unsere Freunde sind dort geblieben und versuchen, das Möglichste in Sicherheit zu bringen und zu gucken, ob alle irgendwie versorgt sind. Das ist das, was wir gerade vor Ort tun, leider unter den Bomben, in Schutzkellern und so weiter.
DOMRADIO.DE: Was hören Sie von der Angst der Menschen, von der Stimmung vor Ort?
Leineweber: Es ist natürlich ganz schrecklich, auch diese ständigen Bombardierungen, gerade in Kiew ist es ja sehr schlimm. Die Männer werden eingezogen, die können nicht weggehen, weil sie ja den Wehrdienst leisten müssen. Da können Sie sich vorstellen, wie es dann Familien mit kleinen Kindern geht. Und dann zu gucken: Wann kann ich auf die Straße fahren, kann ich was einkaufen? Die alltäglichen, kleinen Dinge, die sind natürlich das Drama. Aber was sie uns immer wieder auch rückmelden, ist: Diese Zeichen der Solidarität, die in Europa gesetzt werden, unsere Gebete, aber auch andere Initiativen werden sehr gut wahrgenommen. Und das ist für die Freunde dort eine große, große Hoffnung. Von daher ist auch Europa sehr wichtig, dass wir diese Zeichen setzen, dass wir die Ukraine nicht im Stich lassen.
DOMRADIO.DE: Eigentlich sind Sie von Sant'Egidio gegen Waffenlieferungen. Wie beurteilen Sie jetzt in der aktuellen Situation die deutsche Kehrtwende in dieser Frage?
Leineweber: Wir sind da sehr vorsichtig, denn wir glauben nicht, dass die Konflikte mit mehr Waffen gelöst werden können, sondern mit weniger Waffen. Von daher fordern wir eigentlich dringend, wie auch Papst Franziskus, möglichst jede Verhandlung und Dialogangebote zu nutzen, um dort weiterzukommen und vor allen Dingen zuerst einmal eine Einstellung der Kämpfe zu erreichen und nicht noch weitere Bedrohungsszenarien aufzubauen. Man muss sofort zum Inhalt der Kämpfe kommen. Das ist, glaube ich, im Moment erst mal das Wichtigste, um vor allen Dingen die Zivilbevölkerung auch zu schützen.
DOMRADIO.DE: Sie sind selbst gerade in Rom, wo ja auch der Hauptsitz von Sant'Egidio ist. Vernetzen Sie sich da mit den italienischen Kollegen?
Leineweber: Ja, Sant'Egidio ist ja weltweit vernetzt. Und es ist natürlich sehr schön, hier in der weltweiten Zentrale zu sein, um auch mitzubekommen, wie in anderen Ländern die Gemeinschaften aktiv werden. Wie zum Beispiel unsere polnischen und ungarischen und slowakischen Gemeinschaften auch von hier aus mit unterstützt werden, die dort an der Grenze aktiv sind, um Aufnahmen vorzubereiten. Wir in Deutschland und in den Städten, in denen Sant'Egidio ist, werden auch uns mit einbringen, wenn Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen werden. Das zu koordinieren und sich gegenseitig zu ermutigen, Ideen zu sammeln, das ist, glaube ich, etwas, das auch sehr, sehr gut tut. So ein großes Netzwerk der Solidarität, das ermutigt auch die Menschen vor Ort, die vielleicht in kleineren Gruppen tätig sind.
Das Interview führte Hilde Regeniter.