Russisch-ukrainisches Ehepaar plädiert für Verständigung

"Wir teilen die gleichen menschlichen Werte"

Ihre Ehe ist ein Symbol für Frieden: Irina Gontcharova, selber Russin, hat vor über 30 Jahren ihren ukrainischen Mann geheiratet. Sie lebten in Köln, aktuell leben sie in den USA. Als ethnische Jüdin ist sie besonders sauer auf Putin.

Hoffnung auf Frieden in der Ukraine / © PixelsMD Production (shutterstock)
Hoffnung auf Frieden in der Ukraine / © PixelsMD Production ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Seit Donnerstag vor einer Woche gibt es ja in den deutschen Medien fast kein anderes Thema mehr als Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Wie ist das in den USA?

Irina Gontcharova (Russin mit jüdischen Wurzeln): Ähnlich. Ich glaube das Thema ist weltumfassend und wir begleiten das aus den USA sowohl über soziale Medien als auch über die offiziellen Kanäle. Ob das Nachrichten sind, ob es Fernsehen ist, Radio. Ich glaube, das Thema lässt sich im Moment nirgendwo wirklich vermeiden. Und das ist auch gut so, denn das bringt uns dazu, dass wir gemeinsam darüber nachdenken können: Was wollen wir gemeinsam anders machen?

DOMRADIO.DE: Wie sehr schmerzen Sie die Bilder und Nachrichten aus der Ukraine?

Gontcharova: Sehr, weil man teilweise tatsächlich Bilder aus der Stadt sieht, die für mich eine Geburtsstadt ist – Kiew. Vielleicht auch weil ich Mutter bin, vielleicht weil ich insgesamt das furchtbar finde, was gerade abgeht. Aber alleine die Vorstellung, dass ein Mensch über einer Stadt Bomben schmeißen kann oder mit Panzern über diese Straßen rollt, versetzt mich wirklich in ganz tiefe Trauer.

DOMRADIO.DE: Aktuell sind Sie in Köln zu Besuch, haben hier ein Haus. Und es wird in den kommenden Tagen auch geflüchtete Verwandtschaft ankommen?

Gontcharova: Das ist richtig. Die Familie meines Mannes ist komplett in Kiew beheimatet. Wir haben auch sehr engen Kontakt. Wir feiern gemeinsam Geburtstage, wir telefonieren regelmäßig; und wir waren in großer Sorge schon kurz vor dem Angriff. Wir haben auch alle darum gebeten, das Land zu verlassen. Man wollte es nicht wirklich glauben und konnte es vielleicht auch nicht glauben. Aber als die ersten Panzer rübergerollt sind, war diese Sorge sehr groß und wir sind wirklich sehr froh, dass es zumindest ein Teil der Familie jetzt in die Sicherheit geschafft hat. Hauptsächlich die Frauen und Kinder. Die Männer bleiben da, um zu kämpfen.

Irina Gontcharova

"Für uns war die Nationalität nicht das, was uns verbunden oder entfernt hat."

DOMRADIO.DE: Sie sind auch mit russischen Menschen in Kontakt. Wie denken die über den Krieg mit der Ukraine?

Gontcharova: Meine Schwester und ich hatten gerade gemeinsam einen Kaffee und wir haben über eine Stunde das Thema besprochen. Meine andere Schwester hat sich tatsächlich seit dem Anfang des Angriffs nicht mehr gemeldet. Diverse Freunde haben sich distanziert, andere Freunde posten Bilder, schreiben aber keine Nachrichten. Ich glaube, dass der Schock und die Trauer von Menschen sehr unterschiedlich verarbeitet wird. Vielleicht ist es fair, es so zu sagen: Putin hat mit seiner Politik und mit diesem Angriff nicht nur dem ukrainischen Volk einen unfassbaren Schaden zugefügt, sondern auch dem russischen Volk und Gesamteuropa.

DOMRADIO.DE: Sie leben ja in einer russisch-ukrainischen Ehe. War das am Anfang eigentlich ein Problem?

Gontcharova: Das war es nie. Also ich kenne meinen Mann schon sehr lange Zeit. Wir sind seit über 30 Jahren verheiratet. Wir teilen die gleichen menschlichen Werte, und für uns war die Nationalität nicht das, was uns verbunden oder entfernt hat. Uns hat der Blick auf die Welt, die gemeinsame Zukunft, unsere Kinder großzuziehen, verbunden. So haben wir unsere gemischte Ehe immer schon erlebt.

DOMRADIO.DE: Sie haben ja jüdische Wurzeln und Wladimir Putin spricht jetzt davon, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen. Wie wirkt das auf Sie?

Gontcharova: Also das ist so der Punkt, wo ich vor Wut bebe. Wo ich mir denke, der hat das Recht nicht verdient, diese Worte in den Mund zu nehmen.

Ich glaube, das Unheil, was Nazis in Deutschland im Zweiten Weltkrieg der Welt gezeigt haben, müsste eigentlich Brandmarken und Wunden auf der gesamten Menschheit hinterlassen haben. Und das, was Putin heute zu Zwecken seiner Propaganda nutzt, ist beiderseits ungerecht. Es ist ungerecht, den Menschen, die im Holocaust gestorben sind. Es ist ungerecht den Überlebenden gegenüber. Es ist ungerecht gegenüber jedem, der sich entweder als religiöser Jude oder als ethnischer Jude identifiziert, und ist jedem anderen Menschen auf diesem Planeten gegenüber ungerecht, das ist einfach schlicht falsch.

DOMRADIO.DE: Putin will ja offenbar so lange Krieg führen, bis er die ukrainische Regierung gestürzt hat und eine prorussische Führung installiert hat. Denken Sie, dass genau das bald passieren könnte?

Gontcharova: Schwierige Frage. Ich glaube tatsächlich, dass der Mensch Wladimir Putin einen kompletten Realitätsverlust erleidet. Das ist meine persönliche Einschätzung. Und er wird seine Realität so gestalten, wie er sie glaubt richtig zu sehen. Und das kann tatsächlich dazu führen, dass er die aktuelle gültige Regierung in den Untergrund schickt oder auch einfach morgen im Radio bekannt gibt, dass er den Krieg schon gewonnen hat. Auch wenn er natürlich nicht von Krieg spricht, sondern von einer spezielle Militäroperation. Und dann wird er einfach seine eigene Regierung installieren. Aus meiner Sicht wird das nicht in zehn Tagen, vielleicht auch nicht in zwei Jahren vorbei sein. Das wird erst vorbei sein, wenn dieser Mensch nicht mehr an der Macht ist.

Das Interview führte Julia Reck.

Schätzung: 225.000 Ukraine-Flüchtlinge kommen nach Deutschland

Laut einem Bericht des "Spiegel" (Samstag) schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass bis zu 225.000 Kriegsvertriebene aus der Ukraine in Deutschland Schutz suchen könnten. Das gehe aus einem internen Papier der Bundesregierung hervor. Demnach rechnet die Organisation damit, dass insgesamt bis zu 1,7 Millionen Flüchtlinge die Ukraine wegen des Angriffs Russlands auf das Land verlassen werden.

Knapp eine Woche nach dem Angriff Russlands sind schon rund 666.000 Menschen aus der Ukraine geflohen / © Visar Kryeziu/AP (dpa)
Knapp eine Woche nach dem Angriff Russlands sind schon rund 666.000 Menschen aus der Ukraine geflohen / © Visar Kryeziu/AP ( dpa )
Quelle:
DR