DOMRADIO.DE: Was bedeutet der Begriff "Entnazifizierung" im eigentlichen Sinne?
Dr. Ulrike Schrader (Leiterin der Begegnungsstätte "Alte Synagoge" in Wuppertal): Entnazifizierung war eine ganz konkrete Maßnahme nach dem Zweiten Weltkrieg, die schon in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs beschlossen war, als die Alliierten vier Parteien waren, die sich für vier Staaten zusammengetan haben, um zu überlegen, wie sie mit der Gesellschaft, die sie nach dem Sieg dort vorfinden würden, umgehen sollten.
Ziel dieser Maßnahme war die Demokratisierung der Gesellschaft. Das war das oberste Ziel. Und der Ausgangspunkt war, dass alle erkannten, dass es sich um einen verbrecherischen Staat gehandelt hat.
DOMRADIO.DE: Vom Kreml wird das Bild einer Nazi-Ukraine schon seit Jahren aufgebaut. Ein Land zu entnazifizieren klingt nach einem eigentlich unterstützenswerten Vorhaben. Warum benutzt Putin diesen Begriff jetzt, um den Krieg zu rechtfertigen?
Schrader: Er verdreht die Geschichte permanent, um damit Gründe zu finden, diesen Krieg zu führen. Das ist eine eigene Kriegsrhetorik, die er sich da zugelegt hat. Da gibt es viele Facetten. Aber gerade dieser Vorwurf der Entnazifizierung soll natürlich - wie man heutzutage sagt - triggern.
Denn der Nationalsozialismus oder der Vorwurf, ein Nazi zu sein, stößt auf große Alarmbereitschaft in der westlichen Staatenwelt. In Deutschland natürlich in besonderer Weise, aber auch in anderen westlichen Staaten, weil der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen ja der Gipfel dessen ist, was überhaupt an Schrecklichkeiten passieren kann.
Die Unterstellung Putins, dass es sich bei der Ukraine um einen solchen Staat handeln würde, ist daher auch maßlos und das Wort "maßlos" ist noch euphemistisch. Das stimmt nicht und es ist auch eine Verharmlosung dessen, was wirklich passierte.
DOMRADIO.DE: Würden Sie vielleicht auch sagen, dass wir Deutschen das auch noch mal mit anderen Ohren hören, wenn Putin von Nazis spricht?
Schrader: In den früheren Ostblockstaaten ist es immer eher der Faschismusvorwurf. Der ist tatsächlich eingeübter in den früheren Staaten des Ostblocks. Vielleicht auch, weil ja nun gerade die Sowjetunion als einer der alliierten Staaten auch anders mit der Entnazifizierung umgegangen ist.
Hinterher konnte die Sowjetunion behaupten, dass die DDR als ihr Nachfolgestaat auf deutschem Boden vollkommen entnazifiziert gewesen sei - faschistenfrei, was nicht stimmte. Es gab Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten, aber trotzdem verlief dieser Prozess der Entnazifizierung ein bisschen anders.
Der wichtigste Unterschied ist sicherlich, dass sich die Alliierten damals bemüht haben, in einem möglichst fairen und auch praktikablen Verfahren die Täter aus dieser Gesellschaft herauszufiltern und durch Gerichte abzuurteilen. Es gab fünf Stufen des Nazifiziertseins, vom Kriegsverbrecher bis hin zum Unbelasteten. Eine solche Differenzierung würde Putin nie vornehmen.
DOMRADIO.DE: Selenskyj ist ja in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Teile seiner Familie sind im Holocaust auch ermordet worden. Was sagt das jetzt aus Ihrer Sicht aus, wenn Putin ausgerechnet ihn einen Nazi nennt?
Schrader: Es ist wie alle Kriegsrhetorik letztlich nicht so gemeint, dass wir es auch auf der sachlichen Ebene nachverfolgen und argumentativ widerlegen müssen. Es ist natürlich im Klartext gesagt eine Unverschämtheit und bodenlos, der Ukraine und dann auch Selenskyj einen Nazivorwurf zu machen.
Aber letztlich ist es unerheblich, es ist austauschbar. Das Wort Nazi und Nazifizierung ist in Putins Sprachgebrauch einfach nur das schlimmste, was man über diesen Staat sagen kann. Es soll ein Superlativ an Verbrechertum geäußert werden. Der ganze Staat sei so verbrecherisch wie die nationalsozialistische Volksgemeinschaft in Deutschland gewesen ist.
Und so überzieht er dieses Argument der Nazifizierung, um seinen Krieg zu rechtfertigen. Dass das für alle Juden, die in der Ukraine leben und dort leben ja nicht wenige, obendrein kränkend ist, das ist ganz klar. Aber die wissen auch, dass sie persönlich und als Juden gar nicht gemeint sind.
Das Interview führte Michelle Olion.