KNA: Das UN-Welternährungsprogramm und viele Hilfswerke warnen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg vor Hungerkrisen in Nord- und Ostafrika und dem Nahen Osten. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Dorothee Klüppel (Abteilungsleiterin des Hilfswerks Misereor für Afrika und den Nahen Osten): Es gibt dort eine Verkettung mehrerer Krisenfaktoren. Der Ukraine-Krieg und dessen Folgen kommen zu einer bereits extrem angespannten Situation hinzu. Die durch den Krieg sehr stark steigenden Nahrungsmittelpreise treten nun mit verschiedenen anderen Faktoren zusammen.
KNA: Welche Faktoren sind das?
Klüppel: Der Klimawandel hat Auswirkungen auf die Getreideproduktion in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt. Zum Beispiel verzögerte sich die Weizenaussaat in Anbauregionen in China aufgrund eines zu regenreichen Winters im letzten Jahr. Eine extreme Dürre in Marokko reduzierte die dortigen Erträge drastisch. In Ostafrika, beispielsweise in Kenia, im Südsudan oder in Somalia sind verschiedene Regenzeiten in Folge ausgeblieben, so dass im vergangenen September in Kenia bereits der nationale Katastrophenfall ausgerufen wurde. Der Klimawandel und das, was sich daraus noch in den nächsten Jahren ergeben wird, ist einer der größten Krisenfaktoren.
KNA: Woran denken Sie noch?
Klüppel: In vielen Ländern herrschen Konflikte, die zu Vertreibungen führen: Äthiopien, Südsudan, Somalia, Jemen. Äthiopien oder auch der Südsudan sind beispielsweise Länder, in denen normalerweise viel Landwirtschaft betrieben wird. Wenn aber Konflikte herrschen und die Menschen vertrieben werden, können sie ihre Felder nicht bestellen.
Das ähnelt auf einer kleineren Ebene dem, was wir gerade in der Ukraine erleben.
Wirtschaftlicher Niedergang ist ein weiterer Faktor. Die Covid-19-Pandemie hat dazu geführt, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Beispielsweise in Kenia gab es durch Corona kaum Tourismus mehr. Gleichzeitig sind die Preise für Lebensmittel schon vor dem Krieg in der Ukraine in die Höhe gestiegen. In vielen Ländern gibt es eine hohe Inflation. All das führt dazu, dass die Ernährungssituation in vielen Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens und Ostafrikas sowieso schon extrem angespannt war.
KNA: Wie wirkt sich da der Ukraine-Krieg aus?
Klüppel: Rund 30 Prozent des globalen Weizenhandels werden aus Russland und der Ukraine bestritten. In der Ukraine kann nun vielerorts die Saat nicht ausgebracht werden, also wird man auch nicht ernten können. Außerdem ist festzustellen, dass Nahrungsmittelexporte aus der Ukraine und Russland nicht oder nur eingeschränkt möglich sind. Hinzu kommen die angestiegenen Energiekosten für Transport und Anbau. Knappheit, die hohen Energiekosten, auch Ausfuhrkontrollen in Exportländern wie Argentinien führen zu extrem steigenden Nahrungsmittelpreisen.
KNA: Das Problem sind also vor allem die Preise?
Klüppel: Es ist aktuell nicht unbedingt so, dass es auf der Welt nicht mehr genug Nahrungsmittel gibt. Wenn Getreide jetzt fehlt, dann ist das auch der Fall, weil der Verbrauch als Nahrungsmittel mit der Nutzung als Futtermittel oder Energieträger konkurriert. Dabei ist Weizen eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel weltweit, auch in Ostafrika und im Mittleren und Nahen Osten. Hunger ist also ein Armutsproblem: Die Menschen können sich die dramatisch verteuerten Nahrungsmittel einfach nicht mehr leisten.
KNA: Kann man sagen, welche Region am stärksten betroffen ist oder betroffen sein wird?
Klüppel: Da muss man jedes Land und die Umstände dort individuell betrachten und innerhalb eines Landes dann auch wieder die Region.
Gemeinsam haben die betroffenen Länder, dass die Situation schon vor dem Krieg sehr angespannt war. Bei Krisen in der Vergangenheit hat man übrigens auch gesehen, dass extrem hohe Kosten für Nahrungsmittel auch zu Unruhen führen können. Beispielsweise der sogenannte Arabische Frühling: Die Unruhen, die damals weite Teile des Nahen Ostens umgetrieben haben, hingen auch mit einer dramatischen Preissteigerung zusammen. Die aktuellen Preissteigerungen sind noch höher als damals. Das heißt, auf der einen Seite führt Krieg zu Lebensmittelunsicherheit und auf der anderen Seite führt die wiederum zu Unruhen.
KNA: Haben Sie konkrete Lösungsideen oder Forderungen?
Klüppel: Wir müssen die Landwirtschaft in den Blick nehmen. In Deutschland werden mit rund zwei Dritteln des Getreides nicht Menschen, sondern Tiere ernährt. Eine meiner Forderungen wäre es, weniger Getreide in die Produktion tierischer Nahrungsmittel zu stecken und erst einmal die Menschen weltweit zu ernähren. Wenn es mehr Getreide gibt, sinken die weltweiten Preise.
Außerdem darf es nicht dazu kommen, dass die EU oder einzelne Länder den Export von Nahrungsmitteln reduzieren, um sie für sich selbst zu behalten. Internationale Organisationen wie das World Food Programme (WFP) sind zur Versorgung der Menschen in den Krisenregionen dieser Welt darauf angewiesen, Zugang zu finanzierbaren Nahrungsmitteln zu haben. Wir sollten nicht nur an unsere Ernährung und deren Finanzierung hierzulande denken, sondern in den Blick nehmen, was das für andere Länder bedeutet.
KNA: Erleben Sie eine Umverteilung von entwicklungspolitischen Geldern oder Spenden hin nach Europa?
Klüppel: Das ist eine andere Ebene. Grundsätzlich treibt es uns und unsere Partner in den Ländern des Südens sehr um, dass die Aufmerksamkeit nun auf diesen, wirklich sehr schlimmen Konflikt in der Ukraine gelenkt wird und die Menschen von anderen dramatischen Kriegen gar nichts mehr mitbekommen - etwa im Jemen, in Mosambik, in Myanmar. Ich fürchte auch, wir werden erleben, dass uns viele Spenden, mit denen wir Arbeit in diesen Ländern unterstützen, dadurch wegbrechen.
KNA: Wie reagieren internationale Partner darauf?
Klüppel: Unsere Partner können gut verstehen, dass der Krieg in der Ukraine schon räumlich sehr viel näher an uns dran ist. Aber wir laufen Gefahr, dadurch mit zweierlei Maß zu messen und entsprechend zu reagieren. Ein Partner aus Myanmar hat beispielsweise gesagt: "Warum hat man nicht schon längst gegenüber Myanmar die Einbindung in Swift gekündigt?". Wir dürfen andere Krisen nicht aus dem Blick verlieren.
Das Interview führte Nicola Trenz.