Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine schien Frankreichs Präsidentenwahl schon früh entschieden. Amtsinhaber Emmanuel Macron trat staatsmännisch auf, telefonierte immer wieder mit Wladimir Putin, als alle anderen in Europa den Kriegsherrn im Kreml schon abgeschrieben hatten - und verzichtete ansonsten fast komplett auf irgendwelchen Wahlkampf. Mehrere andere Präsidentschaftskandidaten hatten sich dagegen durch ihre Haltungen und Äußerungen zu Putin unmöglich gemacht.
Doch wenige Tage vor dem ersten Wahlgang am Sonntag (10. April) scheint der Amts- und Staatsmann-Bonus zu verpuffen. Eine jüngste Umfrage sieht nun Macron mit 25 Prozent (minus 4 Prozent binnen zwei Wochen) fast gleichauf mit der rechtspopulistischen Marine Le Pen (23 Prozent, plus 3), gefolgt von dem publikumswirksamen Linkspopulisten Jean-Luc Melenchon mit 16 Prozent (plus 2). Abgeschlagen für die Stichwahl am 24. April sind demnach der rechtsextreme Eric Zemmour mit 11 und die rechtskonservative Valerie Pecresse mit 8 Prozent (minus 2). Allerdings: Jeder dritte Wähler zeigte sich immer noch unentschieden.
Le Pen nach wie vor gefährlich
Dass die Le Pens in Frankreich zeitweilig Kreide fressen und die Stichwahl sowie maximale Aufregung erreichen, um sich am Ende doch dem bürgerlichen oder linken Lager geschlagen geben zu müssen, ist zwar kein neues Phänomen. Daraus aber eine Regel formulieren zu wollen und Marine Le Pen bereits abzuschreiben, wäre sehr fahrlässig.
Auch in Frankreich hat die Gesellschaft durch Gelbwesten-Bewegung, Corona-Pandemie und Kriegsgefahr in Europa an gefährlicher Dynamik gewonnen.
Die Publizistin Caroline Fourest analysierte dazu in einem Interview der Zeitung "Welt", die öffentliche Debatte sei inzwischen "von einem Exzess in den anderen gefallen: Blindheit gegenüber der Wirklichkeit wird abgelöst vom Schweigen über die Tatsachen." Schweigen, so Fourest, nähre "das Gebrüll der extremen Rechten" ebenso wie linke Islamismus- und Putin-Versteher, die mit politischen "Absurditäten" Le Pen und Zemmour massenhaft "Stimmen auf dem Silbertablett" servierten.
Stimmungswechsel bei Katholiken
Unter den praktizierenden Katholiken sah die voraussichtliche Wahlentscheidung - zumindest Ende März - noch etwas anders aus. Eine Umfrage im Auftrag der Zeitschrift "La Vie" sah Macron bei 28 Prozent vor Pecresse (20), Zemmour (19), Le Pen (15) und Melenchon (6 Prozent).
Von den im Wahlkampf angekündigten Maßnahmen oder Vorschlägen, die Katholiken am ehesten davon abhalten, für diesen oder jenen Kandidaten zu stimmen, wurden am meisten genannt: eine Legalisierung von Cannabis und Leihmutterschaft sowie eine Ausweisung aller irregulären Migranten.
Die Zeitung "La Croix" bat zuletzt praktizierende Katholiken, ihre Wahlentscheidung auf der Grundlage ihres Glaubens zu erklären. Das Ergebnis fiel sehr vielfältig aus; für jede und jeden Kandidaten wurden Argumente genannt; besonders häufig: Solidarität und Schutz der Schwachen.
Vielfältige Favoriten
Der Student Eloi (24) zitierte Papst Franziskus mit den Worten, soziales Nichtstun fördere "eine individualistische und naive Kultur im Dienste derer, die bereits zu viel Macht haben"; und:
"Nächstenliebe kann nur in Netzwerken gelebter Solidarität ausgeübt werden". Eloi votierte daher - trotz vieler inhaltlicher Abstriche - für den Linken Melenchon.
Der Jurist und Beamte Hugues (30) argumentierte, die beiden wichtigsten solidarischen Netzwerke gegen "Ultra-Individualismus" und eine ethische Aushöhlung der Gesellschaft seien die Familie und die Nation - die er als eine "Addition" von Sprache, Tradition, Geschichte, gemeinsamen Werten und Religion definiert. Er fühlt sich daher bei dem rechtsextremen Autor Zemmour am besten aufgehoben - als "kleineres Übel".
Der Umweltaktivist Francois (44) stellt die Ökologie als Verbindung zwischen Mensch und Umwelt in den Mittelpunkt. Er fordert ein neues Wirtschaftsmodell; zu erkennen, "dass der Zusammenbruch der Artenvielfalt mit allgemeiner Gier verbunden ist". Für Thomas (33), Leiter einer Nichtregierungsorganisation für internationalen Austausch von Studierenden, ist die Sache ohnehin klar. Er wählt
Macron: "Es sind sein europäisches Denken, seine sozialliberale Philosophie und sein Realismus im Handeln, die meinen Glauben widerspiegeln." Frankreichs Gesellschaft ist mehr denn je eine "Republique en Marche". Ob mit oder ohne einen Präsidenten Macron, wird sich ab Sonntag zeigen.