DOMRADIO.DE: Warum will der Papst zuerst nach Moskau und erst danach in die Ukraine reisen?
Dr. Regina Elsner (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien): Mir scheint, der Papst hat die Hoffnung, dass er Einfluss nehmen kann auf denjenigen, der den Krieg führt und der den Krieg angezettelt hat. Dass er also Putin ins Gewissen reden könne, dass er ihn davon überzeugen kann, dass dieser Krieg zu nichts Gutem führt.
Das halte ich für höchst problematisch. Ich glaube nicht, dass irgendjemand gerade noch Einfluss auf Putin nehmen kann in dieser Hinsicht. Und es zeigt meiner Ansicht nach vor allem, dass der Papst die Ukraine nach wie vor nicht wirklich als eigenständiges Subjekt in diesem Krieg wahrnimmt, sondern, wie auch andere politische Akteure, mit Russland über die Ukraine verhandelt. Und das ist problematisch.
DOMRADIO.DE: Franziskus benutzt im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine eben nicht den Begriff "Krieg". Welche Signale sendet er damit?
Elsner: Er versucht diplomatisch offen zu bleiben für beide Konfliktseiten und versucht dadurch, sich als Vermittler weiterhin zur Verfügung zu stellen. Aber er sendet natürlich an die Ukraine das deutliche Zeichen, dass er diesen Krieg nicht als den wahrnimmt, der er ist, nämlich ein klarer Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine mit dem Ziel, die Ukraine auszulöschen. Und er signalisiert Moskau, dass Moskau mit der Unterstützung des Vatikan rechnen kann. Oder mit der Zustimmung oder mit einer irgendwie gearteten Kompromisslösung für Russland, im Sinne Russlands.
DOMRADIO.DE: Warum macht er das? Ist das Kalkül oder was steckt dahinter?
Elsner: Ich glaube nicht, dass das Kalkül ist. Ich vermute eher – oder habe eher die Befürchtung – dass es einfach ein bisschen naiv ist in der Vorstellung, mit wem man es in Russland zu tun hat und wie sehr verhärtet diese Kriegsvorstellung sowohl kirchlich als auch politisch in Russland ist.
Er möchte tatsächlich, das glaube ich ihm, aus vollem Herzen vermitteln, für den Frieden wirken und eine Position als Vermittler einnehmen. Aber das ist eben schwierig in einer Situation, wo die eine Seite sich so klar verabschiedet hat von allen Verhandlungsformaten.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet denn das Verhalten des Papstes nun für Christinnen und Christen in der Ukraine?
Elsner: Also der Papst und der Vatikan insgesamt haben sich seit Kriegsbeginn sehr solidarisch mit der Ukraine in humanitärer Hinsicht gezeigt. Es gibt sehr viele Aktivitäten des Papstes, des Vatikans, die Ukraine zu unterstützen, die Gläubigen zu unterstützen.
Und das darf man natürlich auch nicht kleinreden vor diesem Hintergrund dieses politischen Agierens mit Moskau. Aber natürlich nehmen ukrainische Gläubige sehr deutlich wahr, dass der Papst sich nicht deutlich gegen Russland stellt und sowohl dem Patriarchen als auch Putin klar macht, auf wessen Seite er in diesem Krieg steht. Das wird sehr kritisch gesehen und ist ein großes Problem für die Gläubigen aller Kirchen in der Ukraine.
DOMRADIO.DE: Menschen, die aus der Ukraine flüchten, die Angst haben, die Familienangehörige verloren haben, wie gucken die auf die Position des Papstes? Sind die nicht zu Recht verstimmt, dass er sich nicht klar auf ihre Seite stellt?
Elsner: Ich kann die Missstimmung in der Ukraine gut verstehen, ja. Natürlich würden sich viele Menschen in der Ukraine, auch viele Kolleginnen und Kollegen von mir und Freunde, wünschen, dass der Papst nach Kiew kommen würde oder dass er noch deutlicher benennen würde, wer für diesen Krieg verantwortlich ist und wer dieses große Leiden verursacht. Aber ich nehme auch wahr, dass die Menschen dankbar sind für jede humanitäre Hilfe, die sie bekommen können. Das heißt, es ist so ein bisschen eine Balance zwischen diesem politischen Agieren und dem humanitären Agieren des Vatikan.
DOMRADIO.DE: Inwiefern kann der Papst Friedensvermittler sein und den Menschen in der Ukraine tatsächlich noch beistehen?
Elsner: Sein Beistehen für die Ukraine kann stärker werden. Das glaube ich schon. Und ich denke, wenn er nach wie vor Rücksicht nimmt auf Moskau in seiner Entscheidung, ob er nach Kiew fährt, dann ist das nicht besonders solidarisch. Da könnte er wirklich für die Ukraine von sehr viel größerem Nutzen sein. Ob er vermitteln kann zwischen Moskau und der Ukraine, das halte ich für sehr schwierig, solange er diese Rücksichtshaltung auf Moskau einnimmt und hier keine klaren Worte spricht.
Das Interview führte Dagmar Peters.