Jeden Tag, auch am Wochenende, klingelt der Wecker von Monika Stevens frühmorgens um acht Uhr. Die 61-Jährige eilt dann in die Küche, um für ihre Mutter Frühstück zu machen. Jedes Mal beschäftigt sie die bange Frage: "Wie ist die Mutti wohl heute drauf? Hat sie wieder einen Demenzschub?"
Seit über drei Jahren pflegt Stevens ihre 92-Jährige Mutter zu Hause im sächsischen Röhrsdorf rund um die Uhr. Zeit für sich bleibt für Stevens kaum. Selbst eigene Therapiestunden oder Einkäufe kann sie nur dann erledigen, wenn ihr Mann da ist und nach ihrer Mutter schaut.
Und will das Ehepaar mal ein paar Tage in den Urlaub reisen, muss Stevens das viele Monate im Voraus planen und organisieren, damit jemand anderes für ein paar Tage die Pflegearbeit übernimmt.
Ihre Mutter in ein Pflegeheim zu geben, kommt für Stevens nicht in Betracht. Zu sehr fühlt sie sich persönlich verantwortlich und verbunden, berichtete sie am Montag in Berlin vor der Hauptstadtpresse.
56.000 Menschen bundesweit befragt
Stevens sprach zugleich für Millionen Menschen in Deutschland, die in einer ähnlichen Situation sind: Denn einer neuen Studie des Sozialverbandes VdK zufolge wollen 90 Prozent aller Bundesbürger - wenn nötig - lieber im eigenen Zuhause gepflegt werden.
Nur jeder zehnte Bundesbürger kann sich einer Umfrage zufolge vorstellen, später im Alter in einem Pflegeheim versorgt zu werden. Von den Pflegebedürftigen selbst wollen sogar nur 2,3 Prozent ins Pflegeheim. Das ist ein Ergebnis der bislang größten Studie zur häuslichen Pflege.
Bundesweit wurden dafür im vergangenen Jahr rund 56.000 Menschen online befragt, davon rund 27.000 pflegende Angehörige und 6.500 Pflegebeürftige. Von den befragen Pflegenden waren 72 Prozent Frauen und 18 Prozent Männer.
Die Hälfte der Befragten versorgt ein Elternteil, wobei jeder zweite Pflegende bereits selbst im Rentenalter und körperlich nicht mehr fit ist. Die Studie mit dem Titel "Nächstenpflege: Alleingelassen und in Bürokratie erstickt" wurde von der Hochschule Osnabrück im Auftrag des VdK durchgeführt.
Jeder dritte Pflegende fühlt sich belastet
Insgesamt gibt es in Deutschland aktuell 4,1 Millionen Pflegebedürftige. Davon werden 80 Prozent oder 3,3 Millionen Menschen zu Hause von nahestehenden Menschen versorgt, entweder von diesen allein oder mit Hilfe von ambulanten Pflegediensten.
Zugleich fühlt sich laut der neuen Studie aber jeder dritte Bundesbürger, der Angehörige zu Hause pflegt, extrem belastet, und kann die Pflegesituation nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr bewältigen. VdK-Präsidentin Verena Bentele forderte mehr Unterstützung für pflegende Angehörige und das Zukunftsthema häusliche Pflege.
Nötig sei etwa ein Nächstenpflege-Budget, dass verschiedene Leistungen wie die Tages- und Nachtpflege, die Verhinderungspflege oder die Kurzzeitpflege finanziell zusammenfasst. Mit einem Gesamtbetrag könnten pflegende Angehörige flexibler Leistungen der häuslichen Pflege in Anspruch nehmen, sagte Bentele. Zudem spricht sich der VdK für den Anspruch auf einen Tagespflegeplatz sowie eine unabhängige Pflegeberatung vor Ort für alle aus.
"Nächstenpflege braucht Kraft und Unterstützung"
Unter dem Motto "Nächstenpflege braucht Kraft und Unterstützung" startete der Sozialverband eine Kampagne und forderte die Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP auf, mehr zur Stärkung der häuslichen Pflege zu tun. Es gehe dabei nicht nur um den Ort, wo gepflegt wird.
"Es geht um viel mehr: Die Beziehung zwischen Pflegebedürftigem und Pflegendem. Diese Beziehung ist sehr emotional und von Liebe geprägt", sagte Bentele. Sie verwies dabei auch auf Monika Stevens, die eindrücklich geschildert habe, wie der Alltag pflegender Angehöriger aussehe.
Es werde viel zu wenig darüber sowie über die Herausforderungen von pflegenden Angehörigen gesprochen, kritisierte Bentele und mahnte an, dass sich dies deutlich ändern müsse. Der VdK wolle zudem mit "Nächstenpflege" einen neuen Begriff prägen, damit das Thema präsenter auf der politischen Agenda wird.