Erzbischof Heße erzählt von seiner Reise in die Ukraine

"Da stehen Sie senkrecht im Bett"

Der Hamburger Erzbischof ist Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen bei der Deutschen Bischofskonferenz. Deswegen ist er nach Lwiw in die Westukraine gefahren. Dort gibt es besonders viele Binnenflüchtlinge. Was hat er erlebt?

Erzbischof Heße am Grab des Seligen Priesters Jerzy Popiełuszko (7. Juli 2022)Download / © Sowa (DBK)
Erzbischof Heße am Grab des Seligen Priesters Jerzy Popiełuszko (7. Juli 2022)Download / © Sowa ( DBK )

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie die Situation in Lwiw erlebt?

Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg, Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen und Vorsitzender der Migrationskommission bei der DBK): In Lwiw gibt es rund 250.000 Binnenflüchtlinge. Die Stadt hatte vor dem Krieg eine Million Einwohner. Jetzt kam noch ein Viertel dazu. Da kann man sich vorstellen, unter welchen enormen und schwierigen Bedingungen das alles organisiert werden muss.

Erzbischof Heße im Gespräch mit Binnenvertriebenen bei dem Besuch des Benediktinerinnen-Klosters St. Josef in Lviv / © Sowa (DBK)
Erzbischof Heße im Gespräch mit Binnenvertriebenen bei dem Besuch des Benediktinerinnen-Klosters St. Josef in Lviv / © Sowa ( DBK )

Ich habe Flüchtlinge dort erlebt, zum Beispiel in der katholischen Gemeinde, die wir besucht haben. Dort hat man im vergangenen Jahr ein neues Pfarrzentrum eingeweiht, dass jetzt für die Flüchtlinge frei geschaffen wurde. Dort leben nur Flüchtlinge: Familien mit mehreren Kindern. Die Menschen kannten sich vorher gar nicht und leben nun gemeinsam in den Räumen, die bis unter die Decke voll sind. Das heißt, die Lage ist sehr angespannt.

Das ist nur die Erstversorgung. Die Frage ist, bleiben diese Menschen? Wandern sie weiter? Gehen sie über die Grenze? Können sie das? Werden sie irgendwann wieder zurückgehen, wo sie hergekommen sind? Ist das möglich oder nicht?

Informationsreise nach Polen und in die Ukraine

Der Sonderbeauftragte für Flüchtlingsfragen und Vorsitzende der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Stefan Heße (Hamburg), unternimmt vom 3.–8. Juli 2022 eine Solidaritätsreise nach Polen und in die Ukraine.

Verteilpunkt für die humanitären Hilfstransporte der Caritas Przemyśl in Leżajsk / © Sowa (DBK)
Verteilpunkt für die humanitären Hilfstransporte der Caritas Przemyśl in Leżajsk / © Sowa ( DBK )

Es gibt viele Fragezeichen, aber die Lage und das Schicksal der Menschen habe ich als sehr angespannt, sehr ernst und mit großer Not erlebt.

DOMRADIO.DE: Sie waren mit der örtlichen Caritas und den Maltesern im Gespräch. Wie geht es den Hilfskräften?

Heße: Die Hilfskräfte arbeiten weiter in Schichten. Es gibt eine Reihe von Freiwilligen, die aktiv sind und sich einsetzen, aber man merkt den Menschen bei aller Begeisterung, die sie in sich tragen, eine gewisse Ermüdung, eine gewisse Erschöpfung an. Zum einen, weil der Krieg im vierten Monat ist. Zum anderen muss man bei Kräften bleiben und seine Ressourcen schonen. Das ist gar nicht so einfach, sodass ich hoffe, dass die Helfer gut für sich selbst sorgen und sich auch wieder erholen können, um neu zu Kräften zu kommen, um diese Arbeit weiter tun zu können.

DOMRADIO.DE: Ihre Reise war eine Solidaritätsreise. Was heißt das? Man kommt mit warmen Worten und leeren Händen?

Heße: Ja, ich bin nicht in der Position, dass ich große Gelder zu verwalten habe. Die gibt es bei der Migrationskommission nicht.

Ich habe mich auch gefragt, ob man einen Besuch wie den meinen machen kann, oder ob das nicht ein bisschen Krisentourismus ist. Deswegen habe ich den Menschen in der Ukraine diese Frage gestellt. Ich war dann doch überrascht, dass mir ganz entschieden widersprochen wurde und eindeutig festhielt, dass es wichtig ist, zu kommen. Die Solidarität darf man nicht unterschätzen. Das haben mir die Helfer der Caritas gesagt; das haben mir die Bischöfe gesagt; und das haben mir die Menschen, denen ich auf der Straße begegnen konnte, gesagt.

Die Ukrainer sind dankbar, dass wir an sie denken. Sie sind dankbar, wenn man sich vorwagt und zu ihnen fährt, damit ihr Schicksal, ihre Situation, die ja durch nichts und niemanden zu rechtfertigen ist, nicht dem Vergessen anheimgegeben wird.

Treffen mit Flüchtlingen aus der Ukraine in der Notunterkunft der Erzdiözese Przemyśl am 4. Juli 2022. / © Sowa (DBK)
Treffen mit Flüchtlingen aus der Ukraine in der Notunterkunft der Erzdiözese Przemyśl am 4. Juli 2022. / © Sowa ( DBK )

DOMRADIO.DE: Die Polen zeigen sich von Anfang an sehr solidarisch mit der Ukraine. Dort haben sie ebenfalls Kirchenvertreter und Hilfskräfte besucht. Hält die Solidarität dort noch mit den Geflüchteten?

Heße: In Polen tut sie das auf jeden Fall. Ich habe dort Vorratslager gesehen. Ich habe mit Vertretern der Caritas gesprochen. Ich habe Menschen gesehen, die in ihren Häusern Geflüchtete aufgenommen haben. Die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor sehr stark. Ich kann nur hoffen, dass sie bleibt, weil sich jeder vorstellen kann, dass all das Engagement nicht ohne Anstrengungen vonstattengeht. Je länger der Krieg andauert, umso mehr kommt es zu einer Abnutzung der Kräfte. Deswegen ist so eine Reise immer wichtig, um den Menschen Mut zu machen und sie moralisch zu unterstützen.

Das tut die Kirche auch, aber sie agiert nicht nur, sondern hat auch eine Botschaft, die über das Alltägliche, über das Körperliche hinausgeht. Diese Botschaft macht den Menschen Mut und gerade in der Ukraine bin ich vielen begegnet, die am liebsten schon heute wieder in ihre Heimat zurückgingen, um mit dem Wiederaufbau anzufangen. Der Wille ist ungebrochen.

DOMRADIO.DE: Ist bei den Treffen mit ihren Mitbrüdern auch der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill ein Gesprächsthema? Redet man über die Orthodoxen? Über den Mann, der den Aggressor Putin unterstützt?

Heße: Kyrill war hier und da schon mal im Gespräch, aber nicht Hauptaugenmerk. Ich war in der Westukraine. Dort gibt es die römisch-katholische Kirche, die sehr klein ist und nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die größte Kirche dort ist die ukrainisch-katholische Kirche. Ich hatte den Eindruck, dass es zwischen den beiden Kirchen eine gute Kooperation gibt, trotz der unterschiedlichen Größenordnung. Die Orthodoxie ist da nicht stark im Fokus. Deswegen gab es bei dieser Reise keine Begegnungen mit ihr.

DOMRADIO.DE: Wie war es für Sie persönlich, die Grenze zur Ukraine zu überfahren, das Kriegsgebiet zu betreten, dort auch zu übernachten. Wie war ihn da zumute?

Heße: Das war schon etwas Mulmiges. Ich bin noch nie in meinem Leben in einem Kriegsgebiet gewesen. Sie kommen von Polen Richtung Grenze und auf der Standspur steht eine viele Kilometer lange Schlange von LKWs mit Hilfsgütern. Die Abfertigung der LKWs an der Grenze dauert durchschnittlich eine Woche. Ansonsten ist die Autobahn in Richtung Ukraine fast eine Geisterautobahn. Da bewegt sich nicht viel.

Messfeier mit Binnenvertriebenen in der Kirche St. Johannes Paul II. in Lviv am 5. Juli 2022. / © Sowa (DBK)
Messfeier mit Binnenvertriebenen in der Kirche St. Johannes Paul II. in Lviv am 5. Juli 2022. / © Sowa ( DBK )

Wir sind schnell über die Grenze gekommen und dann kommt man eben in die Ukraine, in ein Kriegsland. Auch wenn sich das Kriegsgeschehen mehr im Osten oder im Süden ereignet, ist es schon mulmig. Wir haben auch Raketen und Einschüsse gesehen. Gott sei Dank ist uns nichts passiert.

In einer Nacht hatten wir einen Bombenalarm gehabt. Da stehen Sie dann senkrecht im Bett und ich gestehe, dass ich danach nicht mehr einschlafen konnte. Insofern habe ich nach dieser Reise ein anderes Verständnis für Kriegstraumata, die viele Menschen haben, erst recht Kinder.

Deswegen bin ich sehr dankbar, dass neben Unterkunft, Schule und Gesundheit die psychosoziale Dimension bei der Flüchtlingshilfe im Vordergrund steht. Die Caritas bietet dafür Therapien und Ähnliches an, auch wenn da wahrscheinlich noch viel mehr getan werden könnte.

DOMRADIO.DE: Wie läuft das Leben in Lviv?

Stefan Heße, Erzbischof von Hamburg

"Wir müssen alles tun, damit dem ukrainischen Volk Recht und Gerechtigkeit widerfährt. Denn dieser Angriffskrieg durch den russischen Aggressor ist durch nichts zu legitimieren"

Heße: Soweit ich das beurteilen konnte, sind die Geschäfte, die Restaurants und Cafés geöffnet. Allerdings sieht man den Krieg an den verschalten Kirchenfenstern, an den Sandsäcken und den eingehüllten Statuen. Das sind alles kleine Hinweise, dass der Krieg nicht weit weg ist, dass man durchaus damit rechnen muss, dass auch in Lwiw etwas passieren könnte. Spätestens wenn Sie dann geflüchteten Menschen begegnen und deren Geschichten hören, ist das Kriegsgeschehen auf einmal ziemlich nahe.

Ich kann nur sagen, dass wir die Ukraine nicht vergessen dürfen. Wir müssen alles tun, damit dem ukrainischen Volk Recht und Gerechtigkeit widerfährt. Denn dieser Angriffskrieg durch den russischen Aggressor ist durch nichts zu legitimieren. Das ist eine wichtige Botschaft, die ich aus der Ukraine mitgenommen habe, die die Menschen mir mitgegeben haben. Dazu kommt auch ein großes Dankeschön für die Hilfe, die nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt kommt. Es war bewegend, die emotionale Rührung über diese Hilfsmaßnahmen mit erleben zu dürfen.

Das Interview führte Tobias Fricke.

Quelle:
DR