DOMRADIO.DE: Im Fernsehen und auf den Social Media Kanälen sehen wir die Bilder von den zerbombten Häusern jeden Tag. Sie sind jetzt vor Ort in der Ukraine. Wie ist Ihr persönlicher erster Eindruck?
Dr. Oliver Müller (Leiter von Caritas international): Ja, es ist gemischt. Hier in Kiew zum Beispiel hat sich jetzt wieder weitestgehend ein normales Leben auf den ersten Blick ergeben. Und gleichzeitig ist doch alles außerhalb des Gewohnten. Einige Menschen kehren zurück, offensichtlich aus dem Ausland, wie auch hier aus dem Umfeld.
Und gleichzeitig kehren doch auch immer wieder mehr Inlandsvertriebene hier nach Kiew ein. Das heißt die Dienste, was mir die Caritas erzählt, für zum Beispiel Lebensmittelverteilungen haben mehr Empfänger zu verzeichnen als in der Vergangenheit. Von Entspannung kann noch keine Rede sein.
DOMRADIO.DE: Sie sind ja jetzt voraussichtlich bis morgen in Kiew. Was ist das Ziel Ihres Aufenthalts? Wie sieht der Plan mit Ihren Kolleginnen und Kollegen von Caritas International aus?
Müller: Ich bin zusammen mit dem Geschäftsführer von Renovabis hier, weil wir aus Deutschland die Organisationen sind, die die Caritas und Kirche hier am stärksten unterstützen. Es geht darum, mehr zu erfahren, wie es den Menschen, vor allem den Helferinnen und Helfern hier geht.
Und die Problematik ist, dass die auch wirklich erschöpft sind und oftmals am Ende ihrer Kräfte sind, jetzt nach drei sehr anstrengenden Monaten. Es werden auch neue Kräfte gebraucht, und es ist jetzt die Frage nach der Organisation der weiteren Hilfen, die auf sehr, sehr hohem Niveau weiterlaufen müssen. Das ist eine entscheidende Frage für unsere Gespräche.
DOMRADIO.DE: Was haben Sie in den Gesprächen mit den ukrainischen Menschen erfahren?
Müller: Es ist eine große Unsicherheit da, was die weitere Zukunft betrifft. Man sagt auf der einen Seite ja, wir werden, wir müssen diesen Krieg gewinnen. Und doch spürt man und man weiß, dass es sehr, sehr lange dauern wird; vielleicht viele, viele Jahre, bis sich die Situation wieder normalisiert. Das schafft eine große Verunsicherung.
Wirtschaftlich ist es auch schwierig. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die Preise sind hoch, Löhne und auch Renten sind sehr niedrig. Eine Rentnerin, ein Rentner bekommen pro Monat weniger als 100 Euro. Und das bei Preisen für Grundnahrungsmittel, die gar nicht weit entfernt von den unsrigen liegen. Das sind viele, viele Schwierigkeiten. Und ja, viele Menschen wissen schlichtweg nicht, wie es weitergehen soll.
DOMRADIO.DE: Gestern wurde ja viel über den geplanten Wiederaufbau des Landes diskutiert. Die EU hat Hilfe zugesichert und Präsident Selenskyj will mit dem Aufbau nicht warten, bis der Krieg vorbei ist. Wie wird Caritas international denn auch in den nächsten Wochen und Monaten in der Ukraine helfen?
Müller: Also was jetzt weiter im Mittelpunkt steht, sind die Nothilfen. Das sehe ich hier ganz klar. Es stehen Hunderte von Menschen vor Pfarreien, vor Caritas-Stellen, um sich ein Lebensmittelpaket abzuholen. Das hat nach wie vor hohe Priorität. Es gibt Inlandsvertriebene aus dem Osten, die nach Kiew kommen, eine Unterkunft brauchen, bevor sie dann vielleicht weiterziehen. Also das muss man im Blick nehmen.
Gleichwohl finde ich es schon richtig, dass man jetzt auch über den Wiederaufbau spricht. Das gibt den Menschen eine Perspektive und man muss Kriterien dafür festlegen, dass auf keinen Fall jetzt etwas gemacht wird, was man danach noch mal revidieren muss, auch wenn der wirkliche Aufbau im Osten natürlich noch in weite Ferne gerückt ist.
Das Interview führte Julia Reck.