DOMRADIO.DE: Die schwere Schuld der katholischen Kirche am Tod und der Traumatisierung so vieler indigener Kinder steht im Mittelpunkt der Reise. Kein freudiger Anlass. Ist es gut, dass Papst Franziskus sich nach Kanada aufmacht?
Dr. Manuel Menrath (Historiker an der Universität Luzern, Experte für Indigene in Kanada): Es ist nicht nur gut, sondern es ist essenziell. Er hat sich am 1. April im Vatikan vor einer Delegation von Indigenen, also First Nations, Inuit und Métis, offiziell für die Verbrechen der Kirche entschuldigt. Doch eine Entschuldigung muss aus Sicht der Indigenen auch auf dem Land selbst passieren. Alle Indigenen sind ja sehr stark mit dem Land verknüpft. Das Land ist etwas Heiliges und daher ist es eigentlich erforderlich, dass er sich auch dort, wo die Indigenen leben und diese heilige Verbindung mit dem Land haben, nochmals entschuldigt.
DOMRADIO.DE: Geht es jetzt auch konkret um finanzielle Entschädigungen, ähnlich wie für Missbrauchsopfer der katholischen Kirche hier in Deutschland?
Menrath: Diese Entschädigungen gab es eigentlich schon lange. Mit der Einberufung der "Truth and Reconciliation Commission" wurden auch Milliardengelder bereitgestellt für Heilungs-Programme, für psychologische Hilfe. Die ehemaligen Kinder aus den Internaten erhielten pro Schuljahr pro Verbrechen, das an ihnen verübt wurde, eine Entschädigung. Also das ist eigentlich abgeschlossen.
Es gibt jetzt vielleicht auch Forderungen, dass die katholische Kirche da noch finanzielle Mittel bereitstellt für verschiedene Programme oder die Akten öffnet. Aber diese Gelder sind nicht der direkte Anspruch, der hier im Zentrum steht.
DOMRADIO.DE: Was wissen Sie von Betroffenen, wie es ihnen damit geht?
Menrath: Ich habe mit einigen Kontakt. Das ist wirklich eine starke Belastung für die indigene Gesellschaft, vor allem für diejenigen Menschen, die selbst betroffen sind. Sie möchten, dass ihre Akten frei einsehbar sind, dass sie sehen, was da auch passiert ist. Das dient ihnen wie eine Art Beweis, weil ihnen in diesen Schulen die Identität geraubt wurde.
Jetzt müssen sie leider teilweise vor Gericht ziehen, um Recht zu bekommen. Sie haben auch glücklicherweise Recht erhalten, aber es geht eben darum, diese Geschichte, die so lange ausgeblendet wurde, ernsthaft und tiefgründig aufzuarbeiten. Und daher ist es sehr, sehr wichtig, dass diese Akten jetzt freigegeben werden.
DOMRADIO.DE: Kann der Papstbesuch mehr bedeuten als ein Zeichen der Reue und Bitte um Vergebung?
Menrath: Der erste Schritt war der 1. April, als sich der Papst offiziell entschuldigt hat. Nun der zweite Schritt, auch sehr wichtig, ist eben diese Entschuldigung, vielleicht sogar noch etwas ausgedehnt, in Kanada selbst. Nämlich nicht nur, dass einzelne Priester schuldig sind, sondern die katholische Kirche als Institution. Wir sprechen immerhin von einem Ethnozid, also von einem kulturellen Genozid. Und da braucht es jetzt wirklich diesen Schritt. Im indianischen Verständnis ist das aber erst der Beginn. Der Weg wird noch ein sehr langer werden. Es geht darum, dass Archive geöffnet werden. Es geht darum, dass die Kirche die Indigenen hier wirklich ernst nimmt, vielleicht auch Unterrichtsmaterialien oder einen Gedenkgottesdienst erarbeitet. Oder einfach Dinge, wo diese Geschichte, die passiert ist und ausgeblendet wurde, wirklich sichtbar wird. Das muss jetzt geschehen.
Das ist ein sehr, sehr langer Weg. Ein Elder hat am 1. April nach dieser Entschuldigung gesagt: Es ist wie die Jagd. Das ist das erste Mal, dass wir die Spuren unserer Beute sehen. Doch jetzt müssen wir dieser Beute folgen. Das wird noch sehr, sehr lange dauern, bis wir endlich am Ziel sind. Und genau um das geht es jetzt.
DOMRADIO.DE: Was erwarten sich die Menschen von Franziskus in den nächsten Tagen in Kanada und was erwarten Sie?
Menrath: Ich hoffe, dass dieser Versöhnungsweg, der jetzt eingeschlagen wurde, auch durch Zeremonien eine gewisse Tiefe erhält. Dass der Papst auch weiterhin zuhören kann. Man muss auch wissen, die indigene Gesellschaft in Kanada ist nicht homogen. Es gibt Leute, die finden, der Papst soll am liebsten gar nicht kommen, die sind entweder nicht katholisch oder lehnen das Christentum komplett ab. Aber es gibt trotzdem einen Großteil der Indigenen, der eben katholisch ist. Die katholische Kirche hatte 60% der 139 Residential Schools in ihrer Obhut. Die möchten eine Anerkennung. Die unterscheiden den Botschafter und die Botschaft. Es waren Menschen und die haben versagt und da möchten sie Gerechtigkeit, wenigstens auch eine Anerkennung. Die Botschaft, die Bibel, Jesus Christus, das gemeinsame Teilen, sich einsetzen für die Armen – das können sie nachvollziehen. Und jetzt geht es darum, dass diese Taten, die von den Botschaftern begangen wurden, gesühnt werden und dass der Heilungsprozess vonstatten gehen kann.
DOMRADIO.DE: Welche Chance gibt es denn für die Indigenen in Kanada im Anschluss an diese Bußreise des Papstes? Wird es ein Vergeben und einen Neubeginn nach diesen unvorstellbaren Verbrechen, an denen kirchliche Vertreter mit beteiligt waren, geben können?
Menrath: Ich denke nicht, dass es sofort einen Neubeginn geben kann. Es ist ein langer, schwerwiegender Prozess, ein steiniger Weg. Trotzdem, es gibt wieder ein langsames Vertrauen. Man reicht sich jetzt erstmals die Hand und versucht, miteinander diesen Weg zu beschreiten. Aber für viele ist es auch zu spät. Viele dieser Kinder sind in diesen Residential Schools ums Leben gekommen. Andere, die nach den Schulen vielleicht an Alkohol und Drogen zerbrochen sind, leben auch nicht mehr. Es ist ein sehr, sehr komplexes Thema, aber für die Überlebenden, obwohl sie jetzt nochmals vielleicht ein Trauma erleben – es war immer diese Ungewissheit, wird sich der Papst entschuldigen oder nicht – da ist jetzt doch wirklich eine gewisse Klarheit, wo man eben die Fährte wieder aufnehmen kann. Um noch mal mit diesem Bild zu sprechen.
DOMRADIO.DE: Wie ist das Verhältnis der Kirche im Land zu den Betroffenen aktuell?
Menrath: Als vor einem Jahr diese Kindergräber entdeckt wurden, wurden über 50 Kirchen in Brand gesteckt oder es wurde in diesen Kirchen randaliert. Es ist ein gespaltenes Verhältnis. Die katholische Kirche hat sehr, sehr lange mit einer offiziellen und auch publikumswirksamen Entschuldigung gewartet, während andere Kirchen hier etwas schneller vorangegangen sind und auch der Staat sich schon vor über zehn Jahren entschuldigt hat.
Die Menschen haben mit dem gelebt und ich glaube, das Schlimmste, was man ihnen angetan hat, ist, dass ihre Geschichte nicht erzählt wurde. Und weil ihre Geschichten nicht erzählt wurde, wurde auch ihre Identität ausgeblendet. Und die muss jetzt erst wieder sichtbar werden. ich glaube, das ist ein entscheidender Punkt, dass man jetzt hier hoffen darf, dass das geschieht.
Das Interview führte Katharina Geiger.