Historiker erläutert Kolonialverantwortung der Päpste

"Die Kirche wird sich ihrer Geschichte weiter stellen müssen"

Im Rahmen seiner Kanadareise forderten Indigene Papst Franziskus auf, päpstliche Dokumente zur Kolonisierung zurücknehmen. Der Kirchenhistoriker Mariano Delgado erklärt die Rolle der Kirche in der "doctrine of discovery".

Amerikanischer Kontinent auf einem Globus / © Triff (shutterstock)
Amerikanischer Kontinent auf einem Globus / © Triff ( shutterstock )

KNA: Professor Delgado, wie übersetzt man "doctrine of discovery" ins Deutsche?

Mariano Delgado (Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Fribourg): Meist bleibt man beim Englischen. Der Begriff entstand in den vergangen Jahren im anglophonen Raum im Zug einer radikalisierten Kolonialismuskritik, als etwa Denkmäler europäischer Eroberer, Entdecker und Missionare umgestürzt wurden. Insofern ist er Teil der ihrerseits kritisierten "cancel culture", die alles, was nach heutigem Maßstab illegitim und falsch war, ausradieren möchte.

KNA: Was genau ist mit der Entdeckungsdoktrin gemeint?

Katholische Kirche in Kanada

Die katholische Kirche in Kanada hat eine vergleichsweise junge Geschichte. Mit den Europäern und ihrer Kolonialisierung Anfang des 17. Jahrhunderts kam der Katholizismus in die "Neue Welt". So waren es zunächst die Franzosen, die Missionare ins heutige Kanada schickten. Trotz der späteren Eroberung durch die Briten wuchs der Katholizismus in dem Land weiter.

Eine Kirche in Kanada / © Bob Silverman CDN (shutterstock)
Eine Kirche in Kanada / © Bob Silverman CDN ( shutterstock )

Delgado: Bezogen auf die katholische Kirche, ist die päpstlich-kuriale Mitverantwortung für die europäische koloniale Expansion gemeint. Die manifestierte sich vor allem in drei päpstlichen Bullen des 15. Jahrhunderts: "Dum Diversas" (1452) und "Romanus Pontifex" (1455) von Nikolaus V. sowie "Inter Caetera" (1493) von Alexander VI. Nikolaus gewährte den portugiesischen Königen die Erlaubnis, die Länder Ungläubiger zu erobern, ihre Bewohner zu unterwerfen und zu versklaven. Das war zunächst auf den Kampf gegen die Sarazenen an der afrikanischen Westküste gemünzt und gewährte den Portugiesen ein Handelsmonopol nach Asien. Nach Kolumbus' Rückkehr aus Amerika gewährte Alexander VI. dieses Recht auch den Spaniern mit Blick auf die "Neue Welt", wobei man noch gar nicht wusste, wie diese aussah.

KNA: Gab es damals schon Kritik an diesen päpstlichen Urkunden?

Delgado: Kritik weniger, aber sie wurden unterschiedlich interpretiert. Die einen sagten: Der Papst hat allenfalls "potestas" (Gewalt) über die christliche Welt. Aber es gibt das Recht zur Migration und die Pflicht zur Mission, die auch die europäische Expansion rechtfertigen könnten. Eine andere Lesart sagte: Nein, der Papst erlaubt auch gewaltsame Unterwerfung, weil die Indigenen nicht nur Ungläubige, sondern auch minderwertige Barbaren mit Lebensformen sind, die dem Naturrecht widersprechen. Eine dritte, etwa von Bartolome de Las Casas, mahnte: Die Bulle "Inter Caetera" gestattet nur Evangelisierung mit friedlichen und die Freiheit der Adressaten respektierenden Mitteln. Indigene und Europäer haben gleiche Würde, Mission muss andere Kulturen und Religionen schätzen und zwanglos sein.

KNA: Entwickelten nur Katholiken eine solche Lehre?

Delgado: Nein. Nachdem die Puritaner 1620 an der nordamerikanischen Ostküste gelandet waren, formulierten sie 1635 folgendes Selbstverständnis: Die Erde gehört Gott, dem Herrn. Der Herr kann die Erde seinem auserwählten Volk schenken - und anderen nehmen. Wir sind das auserwählte Volk. Das ist dasselbe Denken, nur ohne den Papst. Von daher gibt es in der europäischen Kolonialgeschichte eine "Ökumene des Versagens".

KNA: In Kanada wurde gefordert, Franziskus solle die Bullen seiner Vorgänger explizit widerrufen. Kann, sollte er das tun?

Papst Franziskus trägt einen indigenen Kopfschmuck / © Nathan Denette (dpa)
Papst Franziskus trägt einen indigenen Kopfschmuck / © Nathan Denette ( dpa )

Delgado: In der Kirchengeschichte findet man eher eine Umdeutung früherer Dokumente als einen ausdrücklichen Widerruf. So verbot Papst Paul III. bereits 1537 in seiner Bulle "Sublimis Deus" die Versklavung der Indianer. Die Ureinwohner Amerikas, so der Papst, seien freie Menschen und legitime Eigentümer ihrer Länder, und die Evangelisierung dürfe nur friedlich sein etc. Entstanden war das Schreiben auf den Druck indigenenfreundlicher Missionare. Interessanterweise schrieb Paul III. am Ende: "Alles, was diesen Bestimmungen zuwiderläuft, sei null und nichtig." Das war bereits ein indirekter Widerruf mancher Aspekte der Bulle "Inter Caetera" von Alexander VI.

KNA: Hatte aber wenig Wirkung.

Delgado: Was auch daran lag, dass Kaiser Karl V. gegen diese päpstliche Einmischung protestierte und die späteren spanischen Könige und Konquistadoren das Dokument ignorierten. Sie beriefen sich weiter auf "Inter Caetera", in Spanien Konzessionsbulle genannt. Das Papsttum hat die spanische Berufung auf "Inter Caetera" auch nie ausdrücklich in Frage gestellt, denn das hieße, eine wichtige Entscheidung eines Papstes zu desavouieren - mit den entsprechenden diplomatischen Konflikten.

KNA: Wie könnte eine geforderte katholische Erklärung zur "doctrine of discovery" denn aussehen?

Delgado: Ich vermute, man könnte den Vorrang von "Sublimis Deus" betonen. Auch könnte man die päpstliche Schenkung an die Herrscher Portugals und Spaniens gewissermaßen als Häresie auf dem Boden eines extremen Papalismus werten, weil der Papst sich Herrschaft über Länder der Ungläubigen angemaßt habe, was große katholische Theologen des Mittelalters und der Renaissance in Frage stellten, nicht nur die Reformatoren. Und man könnte sich auf eine Argumentation von Las Casas berufen, der sagte: Nur wenn die Menschen das Christentum und die christliche Herrschaft frei annehmen, ist christliche Herrschaft legitim.

KNA: Welche Aufgaben stellen sich der katholischen Kirche noch bei der Aufarbeitung ihrer Kolonisierungsgeschichte?

Delgado: Die römisch-katholische Kirche wird sich ihrer eigenen Geschichte weiter stellen müssen. Insbesondere der Sklaverei der schwarzen Bevölkerung Afrikas, die Nikolaus V. in seiner Bulle "Romanus Pontifex" 1455 ausdrücklich gutgeheißen hatte. Erst im 18. und 19. Jahrhundert gab es zaghafte päpstliche Verurteilungen zur Sklaverei von Schwarzen.

Der überzogene Papalismus im zweiten Jahrtausend überhaupt ist kritisch zu durchleuchten. Der begann mit der Bulle "Dictatus Papae" (1075) Gregors VII. Er sah den Papst als Herrn der Welt, der den weltlichen Herrschern Lehen verlieh. Das geschah dann schon, als der Papst 1130 den Normannen Sizilien als Lehen schenkte, um dort Muslime und Schismatiker zu vertreiben. Die Anmaßung von Päpsten, über die Herrschaft nicht-christlicher Länder zu befinden, ist ärgerlich.

Vor allem seit 1992, dem 500-Jahr-Gedenken an Kolumbus, gibt es die Betonung von Wert und Eigenständigkeit außereuropäischer Kulturen sowie ein breiteres Umdenken zu Mission und Kolonialismus. Einerseits waren Christen in Eroberung und Unterwerfung verwickelt, haben sie begründet; andererseits berief sich Kolonialismuskritik von Anfang an sowohl auf das Evangelium wie auf antike griechisch-römische Traditionen.

Das Interview führte Roland Juchem. 

Quelle:
KNA