DOMRADIO.DE: Wie haben die Britinnen und Briten diese parteiinterne Wahl des wichtigsten politischen Amtes ihres Landes erlebt?
Andreas Blum (Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde Sankt Bonifatius in London): Es hat sich in den letzten Wochen doch recht hingezogen. Es gab selbst innerhalb der konservativen Partei die Meinung, dass in einer solchen Krise, wie sie im Herbst und im Winter energiepolitisch auf uns zukommt, eine solche lange Vakanz nicht die beste Lösung war.
Wie so vieles in Großbritannien gibt es keine Verfassung. Es besteht Gewohnheitsrecht, viele Traditionen und Einzelgesetze, so dass es tatsächlich den Regularien und den Protokollen entsprach, diese Wahl derart abzuhalten.
DOMRADIO.DE: Von Deutschland aus betrachtet hat Boris Johnson eher eine zweifelhafte Rolle als Premierminister eingenommen. Mit der Wahrheit hatte er es nie so genau genommen, so scheint es. Wie haben das die Menschen um Sie herum gesehen?
Blum: Eine der ganz interessanten Merkwürdigkeiten war, dass es es während der letzten Wochen tatsächlich eine Kampagne gegeben hat, die verlangt hat, dass auf dem Wahlzettel nicht nur Rishi Sunak und Liz Truss stehen, sondern auch Boris Johnson.
Natürlich muss man Umfragen immer mit Vorsicht genießen. Aber es gab unter den Parteimitgliedern Umfragen, wonach Boris Johnson beide überstimmt hätte. Er hätte also mehr Stimmen bekommen als Sunak und Truss zusammen.
Das Bild von Boris Johnson ist in Deutschland ein sehr negatives. In Großbritannien selber ist er sicherlich auch eine Figur, die spaltet. Aber es gibt durchaus Befürworter seiner Politik und seiner Person.
DOMRADIO.DE: Gibt es darüber hinaus auch eine Diskussion im Land über Moral und Ethik in der Politik?
Blum: Politiker stehen generell nicht im Ruf, moralische Führungsgestalten zu sein, sondern sich eben auch aufgrund von Wahlen manchmal in ein besseres Licht zu stellen. Aber auf der anderen Seite ist Boris Johnson an mehreren Punkten doch der Tatsache überführt worden, dass er sich die Wahrheit sehr zurechtgebogen hat.
Ja, diese Diskussion hat es auch gegeben. Aber bei Politikern wird es fast schon mit eingerechnet, dass man genauer hingucken muss, was sie denn eigentlich sagen und sagen wollen. Und dass nicht immer das gesprochene Wort identisch ist mit dem, was der Wahrheit entspricht.
DOMRADIO.DE: Am Dienstag empfängt Queen Elizabeth den neuen Premierminister auf ihrem schottischen Landsitz. Sie gibt dann eher formal den Segen, auch als Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Hat das denn tatsächlich noch eine religiöse Komponente?
Blum: Die Zeremonie heißt tatsächlich "handkissing" und der neue Premierminister oder auch der alte, der sich verabschiedet, wird die Hand schütteln, eine Verneigung machen und einen Handkuss andeuten. Für die Queen, das ist allgemein bekannt und das kommt auch immer wieder durch in ihren Ansprachen oder auch in ihrem Amtsverständnis, ist diese religiöse Bedeutung ihres Amtes schon sehr wichtig. Ich fürchte nur, dass im Rest des Landes und erst recht im politischen Betrieb diese Dimension längst verloren gegangen ist.
DOMRADIO.DE: Die ehemalige Außenministerin Truss wird Premierministerin. Was weiß man über sie?
Blum: Truss hat eine recht interessante Karriere hinter sich. Sie hat bei den Liberaldemokraten begonnen, was so gar nicht ihrem Bild als besonders harter Falke entspricht. Sie hat sich als 19-jährige auch schon mal für die Abschaffung des Königshauses stark gemacht. Das hat sie inzwischen als Fehler eingestanden und lacht ein wenig darüber.
Es zeigt sich eine Frau, die eine schon recht bewegte politische Karriere mit verschiedenen Punkten hinter sich hat. Und ich denke, wir dürfen gespannt sein, was sie vorhat. Sie hat sehr wenig bisher bekannt gegeben, arbeitet mit ihrem Team an einem Programm, das sie innerhalb der ersten Woche bekannt geben möchte.
Dabei will sie vor allem die drohende Energiekrise im kommenden Winter und die sozialen Fragen, die damit einhergehen, beantworten.
Das Interview führte Katharina Geiger.