DOMRADIO.DE: 2.800 Teilnehmer passen ja gar nicht alle in einen Raum, geschweige denn, dass die sich irgendwie untereinander abstimmen können, oder?
Ulrich Nersinger (Autor und Vatikanexperte): Was das Technische angeht, haben wir sehr erfahrene Leute im Vatikan gehabt. Wir haben die Petrini, das sind die Arbeiter der Dombauhütte von Sankt Peter. Die waren so einiges gewohnt an Bausachen. Die mussten ja auch den Baldachin über dem Petersgrab reinigen und instand halten. Die haben es in relativ kurzer Zeit geschafft, Tribünen zu bauen, sodass alle Teilnehmer doch gut untergebracht waren. Man muss nämlich bedenken: Die Tribünen haben wir in Sankt Peter bis in die 60er Jahre hinein immer gehabt. Man hat es den Gläubigen ermöglichen wollen, besser auf den Papst und den Altar zu schauen. Technisch war man schon etwas vorbereitet, obwohl es trotzdem eine große logistische Leistung war.
DOMRADIO.DE: War das dann so wie im Fußballstadion, dass die auf Tribünen übereinander gesessen haben?
Nersinger: Ja, das kann man auch sehr schön auf den Bildern sehen. Das ist wirklich bewundernswert. Manchmal habe ich gedacht: Warum sind die nicht eingekracht? Das sind Konstruktionen, die sehr hoch waren und man hat dann noch mal drüber gebaut, um alle unterzubringen. Aber das waren doch sehr sichere Konstruktionen und man konnte sich darauf verlassen, dass das alles funktioniert.
DOMRADIO.DE: Auch Frauen waren mit dabei. Das war ein Novum. Wie wurde das denn damals in der männlichen Kirchenwelt aufgenommen, dass es plötzlich Beobachterinnen und Hörerinnen gab?
Nersinger: Die Frauen saßen nicht auf den Tribünen, sondern waren ganz unten untergebracht und sind auch nicht sofort beim Konzil anwesend gewesen, sondern erst in der zweiten Hälfte. Dann haben einige Bischöfe, unter anderem auch der Kardinal von Mecheln und von Brüssel, Kardinal Suenens, den Papst darauf hingewiesen, dass doch ein Großteil oder fast die Hälfte der Gläubigen der katholischen Kirche Frauen sind. Und dann hat der Papst beschlossen, dass man Beobachterinnen und Hörerinnen zulässt.
DOMRADIO.DE: Was waren das für Frauen?
Nersinger: Das ist ganz unterschiedlich gewesen. Da waren natürlich einige Generaloberinnen der weiblichen Ordensgemeinschaften dabei. Da waren aber auch Vertreterinnen aus Deutschland, zum Beispiel von den katholischen Frauenverbänden, anwesend. Man hat das schon schon gut gemischt.
DOMRADIO.DE: Damals war die Stimmung ja auch schon aufgeheizt. Es gab sogar Bombenalarm im Petersdom.
Nersinger: Ja, der Bombenalarm war im Vorfeld und da wissen wir auch nicht, wer das gewesen ist. Ob das theologische Gründe waren, ob das politische Gründe waren. Da gibt es eigentlich nur Spekulationen. Aber Unruhen gab es bei jedem Konzil. Wenn wir weit, weit zurückschauen bis ins vierte Jahrhundert, da haben wir weitaus schlimmere Verhältnisse. Wir haben Schlägereien, wir haben fast Todesfälle gehabt, sodass der Kaiser Truppen hin schicken musste. Also so gesehen ging es auf dem Zweiten Vatikanum recht friedlich zu, zumindest was körperliche Aggression betrifft. Aber es war schon teilweise sehr heftig. Die Konservativen und die Progressiven haben miteinander gestritten, die Kurie hat mitgemischt. Aber es lief doch alles noch in einem Rahmen ab, der gut zu kalkulieren, gut zu verarbeiten war.
DOMRADIO.DE: Aber das heißt, auch damals wurde schon erbittert gestritten um die Frage, ob die Kirche Reformen unternehmen sollte oder ob man damit dem Zeitgeist hinterherläuft?
Nersinger: Ich denke, die große Mehrheit der Konzilsväter war überzeugt, dass man Reformen braucht. Es ging dann mehr oder weniger um die Art und Weise, wie man das macht. Und da hat man doch sehr heftig gestritten und man hat von allen Seiten manchmal auch Tricks angewandt. Die Progressiven haben eigene Gruppen gegründet und haben Druck ausgeübt, aber auch die Kurie hat das gemacht.
Es gibt eine sehr schöne Anekdote: Der Konzilssekretär Felici wollte manchmal eingreifen, wenn ihm ein Thema zu heikel war oder wenn das aus dem Ruder zu laufen schien. Und dann ist er zu den Konzilsvätern, die das hervorgerufen haben, hingegangen und hat gesagt: Ich komme in höherem Auftrag und möchte Sie darauf hinweisen. - Das war natürlich eine sehr geschickte Formulierung. Und dann hat niemand gewusst: Wer ist denn jetzt der höhere Auftrag? Und manche sind dann doch so ein bisschen zusammen gezuckt und haben gedacht, das könnte ja doch vom Papst kommen. Und so hat er versucht, etwas Einfluss zu nehmen. Aber das haben im Grunde alle Gruppierungen auf dem Konzil in gewissen Stufen gemacht.
DOMRADIO.DE: Der damals noch der junge Theologieprofessor und spätere Papst Josef Ratzinger war damals einer der Reformer. Wie kam es, dass man von diesem Reformgeist später bei ihm nicht mehr viel bemerkt hat?
Nersinger: Ich sehe doch bei Ratzinger manche sehr, sehr große und sehr bedeutende Reformansätze. Es kommt natürlich auch immer auf die Sicht des Betrachters an. Natürlich betrachtet man heute die Reformen des Zweiten Vatikanums anders als in den 60er Jahren. Ich denke, das hängt sehr von der Position des Betrachters ab. Aber ich denke, Ratzinger hat auch als Papst noch einen starken Reformwillen gehabt.
DOMRADIO.DE: Was sind denn die wichtigsten Neuerungen, die uns das Zweite Vatikanische Konzil bis heute beschert hat?
Nersinger: Oft wird die Liturgiereform genannt, die auf dem Konzil initiiert worden ist. Aber ich denke, es sind ganz andere Sachen, die weitaus gravierender sind. Da ist zum Beispiel das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen. Das hat man doch sehr forciert und einen sehr starken Impuls gegeben. Ich denke auch an die Religionsfreiheit. Das ist auch eine Sache, die sehr wichtig und doch überraschend war, dass die Kirche sich dazu entschlossen hat. Solche Sachen haben wir ja auch heute noch. Es ist ja nicht so, dass das das Zweite Vatikanum ganz ins Stocken geraten ist.
Das Interview führte Heike Sicconi.