DOMRADIO.DE: Die Kirchenkrise ist allgegenwärtig. Man kann sich vorstellen, weshalb Menschen austreten. Verlieren sie aber auch ihren Glauben oder treten sie nur wegen der Institution aus? Was meinen Sie?
Pfarrer Gregor Giele (Propst der Leipziger Propsteikirche St. Trinitatis): Ich glaube, da ist in den letzten Jahren etwas passiert. Es hat sich etwas verändert. Viele Menschen glauben und fühlen sich auch in einer konkreten Ortsgemeinde beheimatet. Sie tun sich aber zunehmend schwer mit dem Erscheinungsbild, dem Auftreten der Großorganisation Kirche, der Institution. Und sie wollen ein Zeichen setzen.
Und deswegen hören wir immer wieder aus Freundeskreisen vermittelt oder im direkten Gespräch, dass Menschen der Kirche, die sich für sie persönlich zu langsam bewegt, in vielen Dingen mit den Fragen unserer Zeit nicht gut umgeht, ein Signal geben.
DOMRADIO.DE: Und wie kamen Sie darauf, dann Ausgetretenen nun diese Angebote zu machen?
Giele: Regelmäßig kommen die Austrittszahlen, Jahr für Jahr werden sie bekanntgegeben. Dann gibt es immer eine Welle der Betroffenheit. Und das war's. Und das kann ja nicht alles sein. Deswegen entstand die Idee, dieses Plakat zu erstellen und auszuhängen, dass wir die Menschen ansprechen wollen, die nicht wegen Verlust ihres Glaubens aus der Kirche austreten, sondern ihren Glauben weiterleben wollen, aber sich eben mit der katholischen Kirche in ihrem Erscheinungsbild schwertun.
Da wollten wir diese Einladung aussprechen, um ein Zeichen zu setzen. Wir wollten die Zahl der Kirchenaustritte nicht einfach nur hinnehmen, sondern auch pastoral reagieren.
DOMRADIO.DE: Sie und die Gemeinde können die Gründe dann schon auch nachvollziehen?
Giele: Natürlich. Wir erleben seit geraumer Zeit auch in unserer Gemeinde, dass Menschen aus der Mitte der Gemeinde diesen Schritt vollziehen, man kennt diese Menschen also. Dann kommt man auch mal direkter ins Gespräch als mit Unbekannten, von denen wir nur den Kirchenaustritt als Mitteilung erhalten. Die Gespräche haben eine hohe Intensität. Man spürt, wie die Menschen ringen, dass das auch ein Schritt ist, der ihnen nicht leicht fällt. Das ist oft ein Reifungsprozess von mehreren Jahren, wo dann irgendwann die Überzeugung kommt, diesen Schritt jetzt gehen zu müssen.
DOMRADIO.DE: Ist das denn kirchenrechtlich eigentlich in Ordnung, ausgetretenen Menschen Sakramente der katholischen Kirche anzubieten?
Giele: Das ist eine spannende Frage. Die römische Position lautet eigentlich, dass der Kirchenaustritt in Deutschland ein Austritt aus der Körperschaft öffentlichen Rechts ist, aber nicht mit dem Glaubensabfall gleichgesetzt werden kann. Die deutsche Kirche hat aber im Partikularrecht geregelt, dass auch der Kirchenaustritt aus der Körperschaft öffentlichen Rechts sanktioniert werden soll. In dem Spannungsverhältnis leben wir jetzt.
DOMRADIO.DE: Viele werden sich fragen, ob sie nach einem Austritt zum Beispiel noch kirchlich heiraten dürfen, auch die Beerdigungen spielen eine Rolle.
Giele: Ja, die Fragen kommen. Gerade wenn es dann bei einer Heirat den Genehmigungsvorbehalt gibt. In der Konstellation ist das auch schwieriger. Aber wenn jemand weiterhin zur Eucharistie gehen möchte, also eine Sehnsucht nach dem Sakrament ausdrückt, dann muss man – glaube ich – aus pastoraler Klugheit noch einmal anders handeln. Zumindest versuchen wir, diesen Weg zu gehen.
DOMRADIO.DE: Wie sind denn die Reaktionen?
Giele: Es gibt eine doppelte positive Reaktion. Zum einen von denen, die ausgetreten sind und dieses Zeichen sehr dankbar entgegennehmen, weil es auch eine Last von ihnen nimmt. Die zweite positive Reaktion kommt von Gemeindemitgliedern, die diese öffentliche Einladung der Gemeinde sehr freut. Sie sind stolz, zu dieser Gemeinde zu gehören.
Es gibt aber auch Leute, denen das zu weit geht. Sie fragen, ob denn da nicht die Sakramente quasi verramscht würden. Aber auch das ist ja eine spannende Diskussion. Ein Verständnis für die Gründe zum Austreten haben inzwischen alle. Jeder stellt sich die Frage. Bei manchen ist das Fass irgendwann übergelaufen. Bei niemandem ist der Eimer oder das Fass leer.
DOMRADIO.DE: Darüber hinaus gibt es bei Ihnen auch noch eine Hotline für Austrittswillige. Haben Sie damit schon Erfahrungen gemacht?
Giele: Interessante Erfahrungen! Inzwischen sind es rund zehn Personen, die angerufen haben. Die allermeisten, die anrufen – das spürt man im Gespräch – haben die Sehnsucht, einen guten Grund zu hören, doch in der Kirche verbleiben zu können. Das ist schon sehr speziell in den Gesprächen. Man erfährt von einem großen inneren Ringen bei den Menschen. Das macht sich niemand leicht.
Das Interview führte Michelle Olion.