Kardinal warnt vor Religions-Missbrauch in Wahlkampf

"Phänomen einer derartigen Ideologisierung"

Der Erzbischof von Sao Paulo hat vor einer Instrumentalisierung der Religion im laufenden brasilianischen Wahlkampf gewarnt. Über Hunger, Gewalt, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit zu reden, sei allerdings kirchliche Doktrin.

Kardinal Odilo Pedro Scherer / © Alexander Brüggemann (KNA)
Kardinal Odilo Pedro Scherer / © Alexander Brüggemann ( KNA )

Im Interview der Zeitung "O Globo" (Sonntag) verurteilte Kardinal Odilo Scherer die in einigen Kirchen ausgeübte Beeinflussung von Wählern. So häuften sich Meldungen, dass Menschen von ihren Arbeitgebern gedrängt werden, bei der Stichwahl am Sonntag (30. Oktober) für den Rechtspopulisten Jair Messias Bolsonaro zu stimmen. "Die Religion darf nicht instrumentalisiert werden", so Scherer.

Bolsonaro setzt auf die Unterstützung evangelikaler Gruppen. Laut Umfragen führt er in diesem Segment mit zwei Dritteln der Stimmen. Seine Ehefrau Michelle und Verbündete werben derzeit intensiv in evangelikalen Kirchen. Der linke Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, der unter den katholischen Wählern führt, hat dagegen auf den Wahlkampf in Gemeinden verzichtet. Religion sei Privatsache und aus der Politik herauszuhalten, so Lula.

Katholische Kirche unter Verdacht gestellt

Kirche in Brasilien

Mit geschätzt rund 125 Millionen Katholiken (nach offiziellen Taufzahlen des Vatikan 171 Millionen) ist Brasilien das größte katholisch geprägte Land der Welt. Angesichts enormer sozialer Gegensätze ist das Engagement der Kirche für Arme und Entrechtete weithin anerkannt; Brasilien ist einer der Ausgangspunkte der sogenannten Theologie der Befreiung. Zugleich macht der katholischen Kirche eine wachsende Zahl protestantischer und evangelikaler Kirchen und Sekten ihre Rolle streitig.

Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa (dpa)
Mann in Brasilien im Gebet / © Leo Correa ( dpa )

Dem früheren Gewerkschaftsführer wirft Bolsonaro vor, Brasilien in ein kommunistisches Land verwandeln zu wollen. Auch die katholische Kirche stellt er demnach unter Verdacht. So beschuldigten zuletzt Bolsonaros Anhänger die Bischofskonferenz, ebenfalls "kommunistisch" zu sein. Ein Vorwurf, der laut Scherer vollkommen unzeitgemäß ist. "Wer einen Bischof oder den Papst als Kommunist bezeichnet, weiß entweder nicht, wer die Bischöfe oder der Papst sind, oder weiß nicht, was Kommunismus ist."

Scherer nahm auch zu einem Vorfall in der vergangenen Woche Stellung, als eine Messe in der Stadt Jacarei gestört wurde. Als der Priester über getötete Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, darunter die 2018 ermordete Stadträtin Marielle Franco aus Rio de Janeiro, sprach, wurde er durch eine aufgebrachte Zuhörerin verbal attackiert. In der Kirche sei kein Platz für "Homosexuelle", so die Frau. Darauf hatten mehrere Besucher der Messe dem Priester vorgeworfen, Abtreibungen zu verteidigen.

Keine offiziellen Präferenzen für Kandidaten

"Wir erleben das Phänomen einer derartigen Ideologisierung, dass man nicht über Arme, über Ungerechtigkeit oder gegen Gewalt reden darf, ohne beschuldigt zu werden, parteiisch zu sein", so Scherer. "Über Hunger, Gewalt, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit zu reden, gehört aber zum sozialen Diskurs und zur Doktrin der Kirche."

Der Kardinal erinnerte daran, dass die Kirche im laufenden Wahlkampf offiziell keine Präferenzen für Kandidaten ausspricht. Er verurteilte die politische Positionierung vieler evangelikaler Kirchen. "Wer eine Gemeinde leitet, darf die Kanzel und die liturgischen Feiern nicht dafür missbrauchen, Wahlkampf zu machen. Wir dürfen das Land nicht entlang der Linie teilen, wer für Lula und wer für Bolsonaro stimmt."

Quelle:
KNA