DOMRADIO.DE: Wir erreichen Sie gerade in St. Louis im Bundesstaat Missouri im Mittleren Westen. Wie erleben Sie die Atmosphäre in diesen Tagen rund um die Zwischenwahlen?
Godehard Brüntrup (Jesuit und USA-Kenner): Die Atmosphäre ist angespannt wie nie. Ich habe schon viele Male Wahlen in den USA miterlebt, aber dieses Mal sind die beiden Lager einander feindlicher gesinnt als jemals zuvor. Obama hat gesagt, es gehe um die Frage, ob die Demokratie überhaupt überlebt. Er spricht also der anderen Seite Demokratie ab. Und die andere Seite sagt: Es geht darum, ob unser Amerika von Linksradikalen zerstört wird. So hart ist der Konflikt.
DOMRADIO.DE: Was sind die großen Themen, die die Wählerinnen und Wähler bei ihrer Stimmabgabe umtreiben?
Brüntrup: Zu den ganz großen Themen gehört die Wirtschaftspolitik, also die Inflation und die gestiegenen Energiepreise. Außerdem ist da die Frage der offenen oder eben nicht offenen Grenze nach Süden, nach Mexiko. In den großen Städten spielt auch das Thema Sicherheit eine Rolle, denn dort hat die Sicherheit deutlich abgenommen, die Kriminalität dagegen deutlich zugenommen. Und in einigen Gebieten, wo es eventuell jetzt zu sehr restriktiven Abtreibungsgesetzen kommen kann, ist auch das Thema Abtreibung wichtig.
DOMRADIO.DE: Was wissen Sie über die Stimmung in der katholischen Wählerschaft? Gibt es da eine Tendenz?
Brüntrup: Die katholische Wählerschaft ist traditionell - und das wird sich auch dieses Mal nicht ändern - in der Mitte gespalten. Es gibt die katholischen Wähler, die eher sozial engagiert sind, die eher von der sozialen Gerechtigkeit herkommen, aus der Gewerkschaftsbewegung. Sie wählen demokratisch. Und es gibt diejenigen, die wertkonservativ sind, zum Beispiel bei der Abtreibung, der Stammzellenforschung oder auch bei Homosexuellen-Ehe. Sie wollen in diesen Fragen eher einen konservativen Kurs fahren und wählen eher republikanisch.
DOMRADIO.DE: Sollten die Demokraten jetzt tatsächlich ihre Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses verlieren, drohen dem Land dann zwei Jahre Stillstand, also zwei verlorene Jahre? Und das ausgerechnet in diesem Moment multipler Krisen?
Brüntrup: Das amerikanische System kennt diesen Zustand sehr gut. Joe Biden wäre nicht der erste Präsident, der in beiden Häusern keine Mehrheit hat. Der amerikanische Präsident ist sehr stark, und er kann sich auch darüber hinwegsetzen, was die Häuser sagen. Er kann aber auch immer wieder für jedes einzelne Gesetz parteiübergreifende Mehrheiten finden. Und das wird jetzt von Joe Biden erwartet, dass er zum Beispiel in der Ukraine-Frage Mehrheiten findet, die in beiden Parteien mitgetragen werden.
Das Gespräch führte Verena Tröster