DOMRADIO.DE: Wie genau sieht es aktuell vor Ort aus?
Oliver Müller (Leiter von Caritas international): Wir haben die Situation in diesem Land in den Mittelpunkt unserer Aktion "Eine Million Sterne" gestellt, die am Vorabend des von Papst Franziskus ausgerufenen Welttag des Armen ist, weil wir da eine der größten vergessenen Katastrophen sehen. Es haben mehr als sechs Millionen Menschen das Land verlassen. Damit ist Venezuela eigentlich eine der größten Flüchtlingskrisen weltweit. Und die sozialen Verhältnisse sind weiterhin katastrophal in dem Land.
Es gibt die Hyperinflation, das heißt ganz konkret rund 1.500 Prozent in nur zwei Jahren. Aber man muss zum Beispiel auch das Faktum erwähnen, dass 90 Prozent der Kinder in der Bevölkerung im Land unter der Armutsgrenze leben. Das heißt, viele Menschen haben nur noch die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Von daher ist die Situation nach wie vor sehr, sehr angespannt.
DOMRADIO.DE: Und das, obwohl Venezuela eines der an Erdöl reichsten Länder dieser Welt ist. Wohin sind denn diese sechs Millionen venezolanische Flüchtlinge geflohen?
Müller: Die meisten von ihnen haben sich auf den gesamten lateinamerikanischen Kontinent verteilt. Die größte Gruppe ist aber in Kolumbien, im Nachbarland gelandet. 2,2 Millionen Menschen leben dort. Das ist eine gewaltige Zahl.
Es ist sehr anerkennenswert, dass Kolumbien die Menschen dort aufgenommen hat. Das Land ist aber selbst nicht in der Lage, sie wirklich adäquat zu versorgen. So campieren viele doch in einfachsten Hütten unter schwierigsten Verhältnissen. Dort und wo vor einiger Zeit noch Wälder waren, haben sich jetzt riesige Flüchtlingssiedlungen gebildet, wo Menschen eben entsprechend unterkommen.
DOMRADIO.DE: Die Lage ist also dramatisch. Ein Grund, warum heute die Aktion "Eine Million Sterne" stattfindet. Wie genau läuft das Ganze ab?
Müller: Diese Aktion führen wir seit 2007 in Deutschland durch. Das ist eine Aktion, die von vielen europäischen Caritas-Verbänden durchgeführt wird. In diesem Jahr werden es zehn Stück sein und in 75 Städten in Deutschland werden heute Nachmittag, wenn es dunkel wird, Kerzen entzündet und auf Plätzen aufgestellt. Diese Aktion soll an die Menschen erinnern, die am Rande ihrer Gesellschaft stehen.
Wir tun uns in der Regel als Caritas international zusammen mit den örtlichen Caritas-Verbänden, weil es wichtig ist, dass man die Armen in der Ferne und die Menschen, die hier bei uns unter Not leiden, nicht gegeneinander ausspielt. So weisen wir in der Regel vor Ort direkt auf die Situation von betroffenen Menschen hin, denen es schlecht geht, aber eben auch auf internationale Problemlagen in diesem Jahr, zum Beispiel auf die Menschen aus Venezuela.
Um das Wort des Papstes aufzugreifen, der dieses Jahr in seiner Botschaft zum Welttag der Armen sagte: Angesichts der Armen nützen keine großen Worte, sondern man krempelt die Ärmel hoch und setzt den Glauben durch das Engagement in die Praxis um. Und dazu wollen wir mit diesem Tag inspirieren.
DOMRADIO.DE: Wie realistisch ist es, dass die Migrantinnen und Migranten, die jetzt zu Millionen das Land verlassen haben, eines Tages in ihr Heimatland, nach Venezuela zurückkehren können?
Müller: Das ist momentan noch schwer abschätzbar, weil die die Armutsspirale immer weiter nach unten ging. Wir haben es dort mit zwei Problemen zu tun: Das eine ist die große Armut, die hat zugenommen. Das andere ist politische Unterdrückung. In dem Land von Präsident Maduro gibt es keinerlei politische Freiheit. Und auch das hat viele dazu gebracht, ins Ausland zu gehen, weil sie unterdrückt wurden.
Eine interessante neuere Entwicklung ist jetzt, dass Venezuela auf der Boykott-Liste zahlreicher westlicher Staaten stand, weil Präsident Maduro zum Beispiel auch den russischen Einmarsch in der Ukraine unterstützt und sich damit außerhalb der Weltgemeinschaft gestellt hat. Aber Venezuela hat Öl, es ist ein potenziell sehr reiches Land. Und die USA zum Beispiel haben jetzt im Zuge des Öl-Boykotts gegen Russland überlegt, die Sanktionen gegen Venezuela zurückzufahren.
Das könnte Präsident Maduro in die Lage versetzen, wieder mehr Einnahmen zu generieren. Wir wissen allerdings, dass er sie wahrscheinlich nicht oder ziemlich sicher nicht unter der Bevölkerung dann auch verteilen wird.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn etwas, was wir hier in Deutschland tun können, um die Menschen in Venezuela und die Geflüchteten zu unterstützen?
Müller: Ja, wer in einer der 75 Städte lebt, in denen heute die "Eine Million Sterne"-Aktion stattfindet, die sicherlich auch durch die Lokalpresse beworben wird, ist herzlich eingeladen dazu zu kommen, damit ein Zeichen der Solidarität zu setzen, allein durch die Präsenz und die Teilnahme.
Natürlich wird da auch die Möglichkeit bestehen zu spenden. Und natürlich rufen wir auch über unsere Internetseite unter Caritas-International.de zur Unterstützung eines konkreten Projektes in Kolumbien auf, das sich ausschließlich an venezolanische Flüchtlinge richtet.
Das Interview führte Moritz Dege.