Politologe ordnet Rolle der Christen im Nahost-Konflikt ein

"Von der Vertreibung haben sie sich nie erholt"

Palästinensische Christen sind und waren integraler Bestandteil der palästinensischen Nationalbewegung im Kampf um die Befreiung Palästinas. Zu diesem Schluss kommt der palästinensische Politikwissenschaftler Xavier Abu Eid.

Zugang zu der Geburtsgrotte in der Geburtskirche in Bethlehem / © Corinna Kern (KNA)
Zugang zu der Geburtsgrotte in der Geburtskirche in Bethlehem / © Corinna Kern ( KNA )

KNA: Wie sah das christliche Palästina bis 1917 aus, als die Briten den Juden in der Balfour-Erklärung eine "nationale Heimstätte" in Palästina zusicherten?

Xavier Abu Eid und Sami Abu Shehadeh
Xavier Abu Eid und Sami Abu Shehadeh

Xavier Abu Eid (Politikwissenschaftler, Berater des "Negotiations Affairs Department" der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO)): Palästina vor der Balfour-Erklärung kannte keine internen Grenzen. Christen hatten freien Zugang zu ihren heiligen Stätten. Das Land war vergleichbar mit dem Rest der Region, die sich in Richtung nationale Unabhängigkeit bewegte. Gleichzeitig expandierten christliche Gemeinden trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Wir sprechen hier von der Wiege der Christenheit. Ein gutes Beispiel ist das Lateinische Patriarchat von Jerusalem, das in alle Landesteile expandierte. Als die Briten Palästina im Ersten Weltkrieg einnahmen, machten Christen rund neun Prozent der Bevölkerung aus.

KNA: Was hat sich mit der Balfour-Erklärung geändert?

Abu Eid: Balfour war eine Zeitenwende. Die Briten versprachen unser Land Menschen, die nicht von hier waren. Gleichzeitig änderte die Erklärung die logische Bewegung Palästinas in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit, in die sich die anderen Länder der Region bewegten.

KNA: Welche Rolle spielten Christen in der palästinensischen Nationalbewegung?

Abu Eid: Sie spielten verschiedene Rollen in verschiedenen Zeiten. Bis 1948 waren Christen im Kampf um die nationale Befreiung Palästinas vor allem an der Front. Dann kam die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern nach der Gründung Israels, ohne deren Verständnis sich die Geschichte nach 1948 nicht verstehen lässt. Die Nakba war ein beinahe tödlicher Schlag für die Christen in Palästina, von der sie sich nie erholt haben.

KNA: Warum?

Abu Eid: Sie zielte auf die Lebensfähigkeit der christlichen Präsenz. Über 50 Prozent der palästinensischen Christen wurden über Nacht zu Flüchtlingen. Familien wurden getrennt, christliche Einrichtungen geschlossen, darunter Kirchen. 1948 lebten die meisten Christen nicht in Bethlehem oder Ramallah, sondern in Westjerusalem, Jaffa, Akka, Nazareth, in Dörfern Galiläas. Sie wurden als Christen nicht anders behandelt als andere Palästinenser.

KNA: Oft heißt es, Christen könnten wegen ihrer Gewaltfreiheit eine Brücke im Konflikt sein. Stimmt das?

Abu Eid: Christen waren als Palästinenser Teil aller Phasen der palästinensischen Nationalbewegung, einschließlich des bewaffneten Widerstands. Es stimmt, dass der bewaffnete Kampf zu einer theologischen Debatte geführt hat. Teile der Christen sahen in der Gewalt eine Abkehr von der christlichen Botschaft. Die gewaltfreien Aktionen im überwiegend christlichen Beit Sahour im Westjordanland während der beiden Intifadas sind Beispiele für erfolgreichen friedlichen Widerstand.

KNA: In Ihrem Buch beschreiben Sie Spannungen zwischen ausländischen Kirchenleitungen und einheimischen Christen in der Haltung zur palästinensischen Frage.

Abu Eid: Nicht alle ausländischen Kirchenführer hatten dieselbe Position. Es gab unter ausländischen Klerikern unzählige, die an der Seite ihrer palästinensischen Gläubigen standen. Aber Menschen sind mit unterschiedlichen Zielen nach Palästina gekommen, manche von ihnen mit mythischen Ideen. Ihnen lag mehr am Schutz der heiligen Stätten als an den Menschen. Anderen ging es um Pilger, und hier muss man sagen: westliche Pilger. Bis 1948 und 1967 waren die meisten Pilger arabische Christen. Heute haben sie nicht die Freiheit, zu kommen. Diese Abriegelung ist ein weiterer Punkt, der das nationale Wachstum und die natürliche Struktur der Christen in der Region zerstört. Ein weiterer Aspekt ist die Frage von Kircheneigentum. Wenn eine Kirche ihr Land den Zionisten überlässt, sendet sie die Botschaft an ihre Gemeinde: "Es gibt für uns hier keine Zukunft".

KNA: Eine Zeit lang gab es eine Arabisierung der Kirchenführungen.

Abu Eid: Michel Sabbah war als erster palästinensischer Lateinischer Patriarch von Jerusalem ein Wendepunkt in jeder Hinsicht. Es ist ihm gelungen, nicht nur Katholiken eine Stimme zu verleihen, sondern die christliche Präsenz für alle wiederzubeleben. Mit seiner Art, sich an die Seite der Unterdrückten zu stellen, hat er viele von der Auswanderung abgehalten. Nach seiner Emeritierung haben sich die Kirchenführer jedoch wieder zurückgezogen. Heute konzentrieren sie sich im Wesentlichen auf zwei Dinge: den Schutz ihrer Rechte im Sinne des Status quo sowie den Steuerstreit mit Israel. Wenn sie sich in seltenen Fällen mit anderen Anliegen befassen, wie etwa im Fall des Jaffators, wo Siedler sich Kircheneigentum aneignen, sieht man, dass sie doch Stärke zeigen können, wenn sie zusammenstehen.

KNA: Sehen Sie eine christliche Zukunft in Palästina?

Abu Eid: Oft wird auf die Abwanderung von Christen fokussiert. Dies mag im Sinne jener sein, die zeigen wollen, dass Christen nicht von hier stammen und hier keine Zukunft haben. Aber was ist mit den Tausenden, die trotz allem hiergeblieben sind? Mit tausenden palästinensischen Christen, die gerne wiederkommen würden, und Israel lässt sie nicht? Man kann Christen nicht vom Rest der Palästinenser abkoppeln. Unsere Rechte als Palästinenser zu erlangen, ist eine Grundvoraussetzung, ohne die es nicht geht. Ohne ein Ende der Besatzung und die Verwirklichung unserer Rechte ist die Lebensfähigkeit einer christlichen Präsenz schwierig. Und ohne eine christliche Präsenz fehlt die Essenz Palästinas.

Das Interview führte Andrea Krogmann.

Heiliges Land

Blick auf Jerusalem / © Kyrylo Glivin (shutterstock)

Als Heiliges Land wird seit dem vierten Jahrhundert der Teil des Nahen Ostens bezeichnet, in dem sich biblische Geschichte ereignet hat. Die Landnahme des alten Volkes Israel, das Leben und Wirken Jesu und das Urchristentum sind dabei von Bedeutung. In der Regel gelten heute Israel und die autonomen bzw. besetzten Palästinensergebiete als Heiliges Land. Gelegentlich werden auch Teile Jordaniens, Ägyptens, des Libanon sowie zum Teil des Irak und Syriens zum Heiligen Land gerechnet.

Quelle:
KNA