KNA: Schwester Maura, unter den 37 Kirchenlehrern und Kirchenlehrerinnen sind nur wenige Frauen. Nach Teresa von Avila, Katharina von Siena und Therese von Lisieux ist Hildegard von Bingen erst die vierte Frau - oder schon die vierte?
Maura Zatonyi (Theologin und Ordensschwester, Vorsitzende der Sankt-Hildegard-Akademie in Rüdesheim-Eibingen): Ich würde das "schon" betonen. Dass wir vier Kirchenlehrerinnen haben ist großartig! Man muss bedenken: Erst ab dem 18. Jahrhundert, seit Benedikt XIV., wurde - teilweise rückwirkend - Theologen und Theologinnen dieser Titel verliehen. Ich finde es beachtenswert, dass Frauen in einer Zeit, in der sie sonst in der Gesellschaft keinen Zugang zur Bildung hatten, im Rahmen der Kirche, in den Klöstern, theologische Arbeit mit hoher Qualität betrieben haben.
KNA: Heute wird die Lehre überwiegend von Männern vermittelt, Kirchenlehrerinnen im Wortsinne gibt es kaum.
Zatonyi: Aber wir haben doch viele Theologieprofessorinnen und Religionslehrerinnen! Ich sehe das nicht so, dass heute die weibliche Stimme nicht gehört werden würde.
KNA: Aber als Lehramt der katholischen Kirche wird in der Öffentlichkeit der Vatikan wahrgenommen - und dort sind vornehmlich Männer am Werk...
Zatonyi: Der Papst ist nun mal die höchste Instanz der Lehre. Bei wichtigen Entscheidungen werden Kommissionen gebildet, wie ich etwa aus eigener Erfahrung bei der Heiligsprechung und Erhebung Hildegards zur Kirchenlehrerin erlebt habe, und in den Kommissionen sind auch Frauen. Darüber hinaus hat Papst Franziskus eine ganze Reihe von Frauen in höchste Ämter gerufen. Wir Frauen können heute unsere Stimme sehr gut zur Geltung bringen - wie damals Hildegard.
KNA: Hildegard hat sich nicht gescheut, den Mächtigen Briefe zu schreiben, sie hat offen ihre Meinung gesagt. Was heißt das für die heutige Zeit?
Zatonyi: Hildegard war mit Bischöfen und Erzbischöfen im Briefkontakt. Sie wusste, dass die Theologen die Verantwortung haben, den Menschen den Glauben nahezubringen. Sie hat den Bischöfen ins Gewissen geredet, damit sie diese Pflicht nicht vernachlässigen.
KNA: Würde Hildegard heute Reformen in der Kirche fordern, etwa das Diakonat oder das Priestertum für Frauen?
Zatonyi: Das wären aus Hildegards Sicht nicht die richtigen Reformen. Die richtige Reform wäre die Umkehr zu Gott und zur Glaubenslehre - das ist bei Hildegard das A und O.
KNA: Wäre Hildegard heute beim Synodalen Weg dabei?
Zatonyi: Was da als vermeintliche Reform verkauft wird - nein! Hildegard würde diesen Synodalen Weg nicht mitgehen. Ich lese seit 20 Jahren täglich ihre Briefe und Originalhandschriften aus dem zwölften Jahrhundert und kann wirklich sagen: Hildegard würde bei der Versammlung des Synodalen Weges höchstens eine feurige Rede halten, dass die Menschen wieder zum Glauben zurückkehren sollen. Sie würde ihnen ins Gewissen reden, die Schönheit der Glaubenslehre wiederzuentdecken.
KNA: Aber auch heute erheben Frauen ihre Stimme in der Kirche.
Zatonyi: Ja, und es geht darum, wofür man die Stimme erhebt. Hildegard hat immer für die Sache des Glaubens gefochten, aber sie hätte nie für das Frauenpriestertum gekämpft. Das war kein Thema für sie. Sie hat die Hierarchien letztlich akzeptiert.
KNA: Sehen Sie das ähnlich?
Zatonyi: Ich verweise diesbezüglich auf die Lehre der Päpste. Wir können nicht die Ideale der Kirche zerschlagen, weil wir sie vermeintlich nicht leben können. Wir müssten eher fragen, wie wir die in der Bergpredigt enthaltenen Seligpreisungen heute leben können. Denn die Menschen haben eine Sehnsucht - wie sollte man denn diese Sehnsucht mit den Diskussionen um das Frauenpriestertum stillen können?
KNA: Heute ist die Schöpfung durch den Klimawandel bedroht wie nie zuvor. Hätte Hildegard Verständnis für Klimaschutzaktivisten?
Zatonyi: Es gibt eine Passage in ihrem Werk mit dem Titel 'Die Klage der Elemente', die frappierend mit der Umweltenzyklika von Papst Franziskus übereinstimmt. Auch bei Hildegard heißt es etwa, die Luft sei verschmutzt. Die Ursache dafür sei, dass sich der Mensch als Rebell in der Schöpfung aufführe. Hildegards Lösungsansatz ist, dass der Mensch wieder seinen Platz in der Schöpfung wahrnimmt, als Abbild Gottes. Dadurch, dass er mit Vernunft und einem Leib ausgestattet ist, ist der Mensch fähig, das Schöpfungswerk fortzuführen. Das ist sein Auftrag in der Welt.
KNA: Der Ukraine-Krieg dauert seit fast zehn Monaten an. Hat Hildegard eine Friedensethik entwickelt?
Zatonyi: Ich würde es kommunizierendes Friedensverständnis nennen. Für sie ging es darum, durch konstruktive Konfrontation sich der Wahrheit zu stellen und so den Friedensprozess zu gestalten. Das ist ein mühsamer Weg, auf dem man viel kommunizieren muss.
KNA: Aber wenn der Aggressor nicht kommunizieren will?
Zatonyi: Hildegard machte sich keine Illusionen. Sie rechnete mit der Existenz des Bösen. Für sie war klar, dass wir in einem Kampf mit dem Bösen leben. Sie hat in ihrem Werk "Das Buch der Lebensverdienste" 35 Formen des Bösen beschrieben, die in ihrer Heimtücke manchmal gar nicht auf den ersten Blick als das Böse erkennbar sind. Die stärkste Waffe für den Kampf gegen das Böse ist die Hoffnung.
KNA: Kann man Hildegard für heute nutzbar machen? Uns trennen 900 Jahre!
Zatonyi: Hildegard ist nicht einfach zu lesen, aber dadurch wird die Sache umso spannender, weil ihre Botschaft tiefgründig ist. Das Evangelium ist 2.000 Jahre alt und kann mitunter ebenfalls ein harter Brocken sein - und ist trotzdem aktuell.
KNA: Ist Hildegard für Sie ein Vorbild im Glauben?
Zatonyi: Sie war für mich keine Freundin gewesen. Erst durch die kritische, wissenschaftliche Auseinandersetzung ist sie mir zu einer Meisterin im Glauben und Leben geworden. Ihre Weisheit beeindruckt mich immer wieder neu.
Das Interview führte Norbert Demuth.