DOMRADIO.DE: In welchem Verhältnis steht Sant'Egidio zu Syrien?
Pfarrer Matthias Leineweber (Geistlicher Begleiter von Sant'Egidio Deutschland): Es gibt seit vielen Jahrzehnten ganz enge Kontakte, vor allen Dingen mit den christlichen Kirchen in dem Land. Die haben sich seit Jahrzehnten immer sehr stark an den interreligiösen Dialogtreffen und Friedenstreffen von Sant'Egidio beteiligt, gerade auch aus der Region von Aleppo. Dazu zählen die syrisch-orthodoxe, die griechisch-orthodoxe und jetzt auch die lateinische Kirche.
Darüber haben wir auch versucht in diesen schwierigen Zeiten viel Hilfe zu leisten, besonders indem wir Betroffene, Familien, bedürftige Familien, Kranke und Verletzte aus dieser Kriegssituation in Syrien rausgeholt haben. Wir haben sie durch humanitäre Korridore nach Europa gebracht. Da gibt es sehr viele Kontakte. In vielen Ländern Europas, auch in Deutschland, nehmen wir syrische Flüchtlinge auf und sie erzählen uns sehr viel von ihrer Heimat.
DOMRADIO.DE: Und das "nur" wegen des Krieges. Jetzt ist dieses furchtbare Erdbeben noch dazu gekommen. Was können Sie uns über die Lage vor Ort in Syrien sagen?
Leineweber: Das Dramatische an dieser Situation ist, dass das Erdbeben schlimme Auswirkungen hat, gerade in einer Region, die sowieso schon unter diesen Kriegswirren gelitten hat und eigentlich in ganz Syrien am schlechtesten versorgt ist.
Die Lage im Land ist sowieso schon katastrophal, aber in der Gegend Idlib und Aleppo ist es besonders schlimm. Denn dort regieren die Rebellen, die kontrollieren die Region und da kommen überhaupt keine humanitären Hilfen an, weil die Regierung das blockiert. Es gibt wenige Korridore, wo das immer mal wieder möglich war, aber die Menschen dort leiden schrecklich.
Und jetzt kommt noch dieses katastrophale Erdbeben dazu, dessen Ausmaße wir überhaupt noch nicht genau abschätzen können, denn aus Syrien kommen nur wenige Informationen.
DOMRADIO.DE: Der syrische Machthaber Baschar al-Assad wird von Russland sowie dem Iran unterstützt und vom Westen geächtet. Welche Rolle spielt das in dieser katastrophalen Situation?
Leineweber: Ich denke in der Notlage und in dieser Dramatik muss einfach erst mal die Menschlichkeit Vorrang haben, unabhängig von politischen Erwägungen. Daher kommt auch die Forderung die Sanktionen auszusetzen und das möglichst schnell, denn das ist in so einer Situation ganz wichtig, dass die Hilfe schnell erfolgt. Nur so kann humanitäre Hilfe geleistet werden, Medikamente, medizinische Geräte und was sonst benötigt wird, um vielleicht noch Verschüttete zu bergen.
DOMRADIO.DE: Welche Sanktionen gibt es dort gerade konkret?
Leineweber: Es gibt praktisch keine Güter, die eingesetzt werden könnten für den Krieg, ihre Lieferung ist praktisch nicht möglich. Darunter fallen natürlich auch viele Dinge aus dem Bereich Medikamente, medizinische Versorgung, irgendwelche Geräte.
Das heißt, dieses Land ist sozusagen total ausgeblutet. Es ist auch ganz schwierig, dass viele Strukturen, vor allen Gesundheitsstrukturen durch diesen Krieg zerstört sind. Da funktioniert in dieser Gegend gerade gar nichts. Das ist natürlich jetzt besonders schlimm, wenn man an die Menschen denkt, die dort jetzt jede Hilfe dringend brauchen.
DOMRADIO.DE: Jetzt hat sich sogar Israel bereit erklärt, Hilfsgüter in das benachbarte Syrien zu schicken, obwohl diese beiden Länder sich seit Jahren offiziell im Kriegszustand befinden. Inwiefern können solche Angebote beweisen, dass humanitäre Katastrophen auch eine Chance für diplomatisches Bemühen und für christliche Nächstenliebe sein können?
Leineweber: Ich würde sagen, wenn das uns nicht dazu bewegt, zu sagen, jetzt gehen erstmal diese leidenden, betroffenen Menschen vor, dann ist die Menschlichkeit oder Humanität wirklich kaum noch vorhanden.
Das heißt unabhängig von Konflikten, von Feindseligkeiten, die es gibt, von Verletzungen, die es natürlich auch gegeben hat, und von wirklich schrecklichen Verbrechen, die auch geschehen sind, geht es jetzt darum, den Menschen vor Ort zu helfen. Da muss man einfach pragmatisch die Wege gehen, die die Hilfe vor Ort hinbringen kann. Von daher, glaube ich, ist es ganz wichtig, dass man da die Kanäle öffnet.
DOMRADIO.DE: Das hat auch Außenministerin Annalena Baerbock gefordert, türkisch-syrische Grenzübergänge zu öffnen. Sie hat alle internationalen Akteure, Russland eingeschlossen, dazu aufgerufen, ihren Einfluss auf das syrische Regime zu nutzen, damit das geschehen kann. Für wie wahrscheinlich halten Sie das, dass diese Forderungen in den kommenden Tagen Realität wird und solche Hilfsgüter-Transporte ungehindert fließen und laufen können?
Leineweber: Es ist halt einfach unsere große Hoffnung. Ich denke, es ist schon ein kleines Signal, dass der syrische Präsident die UNO um Hilfe gebeten hat. Da scheint es eine Regung zu geben, zu schauen, dass man den Menschen hilft. Ich glaube, diese Gelegenheit sollte man auch nutzen. Man weiß nicht genau, was sich aus dieser Notlage und dieser Hilfsaktion für gute Effekte ergeben können, auch für die Zukunft.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.