DOMRADIO.DE: Ist Atomkraft mit dem christlichen Glauben vereinbar?
Ulrike Scherf (stellvertretende Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau): Dieses Thema wird natürlich seit Jahrzehnten in unserer Kirche heftig diskutiert. Auf der einen Seite ist natürlich immer zu berücksichtigen, was der wissenschaftliche Fortschritt bringt, auf der anderen Seite ist auch immer die Frage, wie die Folgen vom Einsatz von bestimmten Technologien einzuschätzen sind. Da gibt es in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau seit Jahrzehnten die Position, dass die Folgen der Atomkraft die nächsten Generationen so tangieren, dass das eine Schwierigkeit ist aufgrund unseres Auftrags, die Schöpfung zu bewahren.
Nach unserer Grundauffassung sieht Gott uns ja in der Verantwortung, auch für die kommenden Generationen die Lebensgrundlagen entsprechend zu bewahren, damit auch Kinder und Kindeskinder eine schöne Heimat vorfinden und alle Lebensgrundlagen erhalten, die sie zum Leben brauchen. Die Atomkraft birgt hohe Risiken – und zwar in beiderlei Richtungen. Auf der einen Seite haben wir, glaube ich, alle noch diese schrecklichen Bilder aus Fukushima vor Augen, dass diese Technologie, wenn etwas passiert, wirklich verheerende Folgen hat und Menschen sämtliche Lebensgrundlagen zerstört und ganze Regionen dann Schaden nehmen und Menschen ihr Zuhause verlieren und unzählige Menschen sterben.
Auf der anderen Seite ist ja nach wie vor die Endlagerung nicht gelöst. Auch da werden Hypotheken für die kommenden Generationen aufgenommen. Das sind beides die Gründe, warum sich die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau deutlich festgelegt hat, zu sagen, wir treten für das Ende der Nutzung der Atomenergie ein, um der Bewahrung der Schöpfung Genüge zu tun.
DOMRADIO.DE: Mit dem Ausbau regenerativer Energiegewinnung ist Deutschland noch nicht weit genug. Das heißt jetzt in diesem Fall, dass die Kohle wieder an Bedeutung gewinnt. Das bedeutet auch mehr Emissionen. Ist das für Sie vertretbar als Pfarrerin?
Scherf: Das ist auch überhaupt nicht gut. Ich kann auch nur sagen, dass ich das sehr bedauere. Der Beschluss, aus der Atomenergie auszusteigen, ist ja nun schon viele Jahre her, über zehn Jahre. Das war 2011, damals als Reaktion auf die Katastrophe von Fukushima. Seitdem hätte schon viel mehr passieren müssen, um diese Energiewende wirklich zu schaffen.
Es macht aber aus meiner Sicht keinen Sinn, diese hohen Risiken der Atomkraft jetzt auf uns zu nehmen, nur um anderes zu verhindern. Ich kann an der Stelle nur sagen: Es braucht großen Nachdruck, jetzt diese Energiewende mit allen Mitteln, so gut es geht wirklich umzusetzen und da mehr Energie reinzustecken als in den letzten Jahren.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Wirkungsgebiet liegt das Kernkraftwerk Biblis. 2013 wurde das abgeschaltet. Ich kann mir vorstellen, dass es auch da viele Diskussionen gab. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?
Scherf: Das war natürlich damals heftig umstritten, aus verschiedenen Gründen. Es war natürlich besonders auch für die Mitarbeitenden hier in der Region ein ganz großes Problem. Es waren alleine 700 Arbeitsplätze hier, die das Atomkraftwerk in und um Biblis ermöglicht hat. Hier war es einfach wichtig, die Menschen auch seelsorgerlich zu begleiten. Die Kirchengemeinde vor Ort war da sehr aktiv. Auch das Dekanat ist auf die Menschen zugegangen. Es gab auch später dann noch offizielle Besuche, um den Menschen dort deutlich zu machen, dass man ihre persönliche Situation wahrnimmt. Es wurde natürlich auch heftig gestritten.
Ich muss aber sagen, im Gegensatz zu heute war die Diskussion damals noch mal anders aufgrund dieser Bilder, die wir alle in Fukushima miterlebt haben: Diese zerstörten Reaktoren, diese Flugzeuge, die versucht haben noch zu löschen, was zu löschen ist. Die Dramatik der Entwicklung stand doch damals so deutlich vor Augen, dass doch eine relativ breite Mehrheit auch hinter dieser Entscheidung stand, aus der Atomkraft auszusteigen, schrittweise und geordnet.
DOMRADIO.DE: Gibt es Tipps oder gute Erfahrungswerte, die man vielleicht übertragen kann auf die Situation von heute bei Neckarwestheim, Isar 2 und Emsland?
Scherf: Ich würde sagen, dass es auf jeden Fall immer wichtig ist, im Gespräch zu sein. Wir erleben ja heute, dass viele einfach nur noch in ihren eigenen Kreisen kommunizieren. Ich glaube, es ist ganz wichtig, da Foren zu haben, wo man miteinander redet und wo die betroffenen Menschen ihre Sorgen teilen können.
Was aber das Allerwichtigste ist, ist natürlich die Frage, wie es weitergeht. Wenn ich sage, dass wir Verantwortung für die kommenden Generationen haben, dann bedeutet das ja auch, dass die Menschen, die vor Ort leben, auch eine weitere Perspektive brauchen. Die Frage ist, wie die Transformation gelingen kann von einem AKW hin zu einem anderen Ort, etwa zu einem Gewerbegebiet. Oft sind das ja Regionen, die auch gut erschlossen sind, vom Verkehr her und von anderen Möglichkeiten. Wie gelingt es dort, eine Idee zu entwickeln, wie dieser Ort anders genutzt werden kann, wenn denn diese mühsame Arbeit erledigt ist, die Atomkraft-Rückstände abzubauen.
Da gilt es zu gucken, wie die Veränderung gelingt und wie man Menschen mitnehmen kann. Was könnte eine Zukunftsvision für die jeweilige Region sein? Dann ist deutlich, dass solche Entscheidungen nicht gegen Menschen gehen, sondern dass man gemeinsam auf der Suche nach einer guten Zukunft ist.
Das Interview führte Verena Tröster.