DOMRADIO.DE: Warum ist die Situation in Venezuela denn besonders problematisch?
Andreas Stickler (Leiter Kommunikation und Fundraising beim Katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat): Unter der Regierung von Präsident Maduro hat sich die Situation in einem eigentlich sehr wohlhabenden und sehr reichen Land komplett gedreht. Venezuela gehört mittlerweile zu einem der ärmsten Länder in ganz Südamerika.
Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann ist das alarmierend. Wir haben bis März 2023 rund 7,2 Millionen Menschen, die aus Venezuela geflohen sind. 2021 hatte das Land 27,5 Millionen Einwohner. Das heißt, dass fast ein Viertel der Bevölkerung mittlerweile geflohen ist. Ein Großteil davon bleibt in Kolumbien. Aber viele gehen auch weiter in andere Länder.
DOMRADIO.DE: Wovor fliehen die Menschen denn dort?
Stickler: Die Gründe sind unterschiedlich. Es gibt innerhalb von Venezuela in bestimmten Gebieten nach wie vor bürgerkriegsähnliche Zustände. Es herrscht eine hohe politische Willkür. Man weiß also nicht, ob man morgen noch sein Stück Land besitzt. Es gibt einfach existenzielle Not.
Die Leute wissen nicht mehr, wie sie ihre Grundversorgung finanzieren sollen. Viele, die im Land leben, haben zwei, drei oder vier Jobs, um ihre Familie durchzubringen. Und viele kapitulieren einfach, weil das bisschen, das sie da verdienen, nicht mehr reicht, um die Familie zu ernähren.
DOMRADIO.DE: Die Menschen müssen Kolumbien durchqueren, wenn sie nach Nordamerika wollen. Wie werden die Flüchtlinge denn dort aufgenommen?
Stickler: Tatsächlich war Kolumbien früher eines der ärmsten Länder Südamerika. Mittlerweile ist es unter anderem Venezuela geworden. Die Menschen haben zunächst mal extrem gastfreundlich reagiert. Wir haben in den ersten Jahren der Fluchtbewegung aus Venezuela festgestellt, dass die Kolumbianer diese Menschen aus Venezuela sehr offen empfangen haben und auch das bisschen, was sie hatten, geteilt haben.
Jetzt stellen wir fest, dass auch Kolumbien an seine Grenzen kommt. Von diesen 7,2 Millionen geflohenen Menschen, die ich genannt habe, bleibt ungefähr ein Drittel in Kolumbien. Das sind 2,5 Millionen Menschen, die in Kolumbien aufgefangen werden müssen.
Nun gibt es mittlerweile leichte Bedenken im Land, ob man das noch weiter stützen kann.
DOMRADIO.DE: Auch in Panama ist die Situation für die Flüchtlinge gefährlich. Inwiefern denn?
Stickler: Wenn man schon mal in Panama ist, hat man den schlimmsten Teil hinter sich. Vor Panama ist die Grenze zwischen Kolumbien und Panama, der sogenannte Darién. Das sind 100 Kilometer Dschungel. Den zu durchqueren, gilt als eine der gefährlichsten Strecken auf der ganzen Welt.
Wenn die Flüchtlinge tatsächlich in Panama nach 14 oder 20 Tagen Wanderung durch den Dschungel ankommen, werden sie dort vom Militär in Busse gesetzt und als ein logistisches Problem gesehen.
Das heißt, sie werden direkt an der Grenze zu Kolumbien abgefangen, in den Bus gesetzt und dann an die Grenze gefahren, damit die Flüchtlinge Panama möglichst schnell wieder verlassen.
Völlig außen vor gelassen wird dabei, dass die Menschen diese Wanderung durch den Darién hinter sich haben, meist unterernährt sind, komplett dehydriert, Verletzungen haben und Familien teilweise getrennt wurden. In dieser Situation muss Kirche eingreifen, müssen unsere Projektpartner eingreifen und die Menschen mit dem Nötigsten versorgen.
DOMRADIO.DE: Wie gefährlich ist denn die Situation für die Helfer, für die Unterstützer von Seiten der Kirche?
Stickler: Die Unterstützer gehen an die Grenze. Nicht illegal, aber mehr geduldet als legal. Es gibt oft Diskussionen mit den Militärs dort. Die Helfer versuchen halt, möglichst nah an die Menschen heranzukommen. Dann gibt es auch mal Drohungen oder Bedrohungen durch das Militär.
DOMRADIO.DE: Adveniat bietet den lateinamerikanischen Flüchtlingen in Kirchen Schutz und versorgt auch die Menschen mit Lebensmitteln oder mit Hygieneartikeln und mit Medikamenten. Wie hilft Adveniat den Menschen dort sonst noch?
Stickler: Wir unterstützen zum Beispiel ein Projekt in Kolumbien, wo es um die Integration von venezoelanischen Frauen geht. Das ist in einer Nähschule. Das Besondere an dieser Schule ist, dass sie nicht nur für die venezolanischen Flüchtlingsfrauen offensteht, sondern auch für Kolumbianerinnen. Das heißt, Venezolanerinnen und Kolumbianerinnen machen gemeinsam eine Ausbildung.
Dieses gemeinsame Schulbank-drücken schafft auch schon erste soziale Kontakte, damit am Schluss nicht nur eine berufliche Ausbildung steht, sondern auch der erste Weg in die soziale Gemeinschaft des jeweiligen Dorfes dort.
Das ist eine Gegend, in der es sehr viele Nähfabriken gibt. Das heißt, es gibt Bedarf an dem Beruf. Für die Frauen ist das ein erster Weg in die finanzielle Unabhängigkeit.
DOMRADIO.DE: Inwiefern kann Adveniat gegen schlimme Fluchterfahrungen unterstützen?
Stickler: Neben der Grundversorgung mit Wasser und Lebensmitteln haben wir vor Ort immer psychologisch geschulte Mitarbeiter, die den Menschen dort helfen, um bei einer getrennten Familie Unterstützung zu bieten oder einfach nur zuzuhören.
Das ist für viele Menschen, die den Darién durchquert haben, ganz wichtig. Die kommen da mit einem großen Traum heraus, es sterben auch viele Menschen. Das heißt, selbst Kinder sehen da Leichen am Straßenrand liegen und müssen das verarbeiten. Dabei hilft ihnen Adveniat.
DOMRADIO.DE: Haben Sie eine realistische Hoffnung für die Menschen, die dort in Lateinamerika auf der Flucht sind?
Stickler: Papst Franziskus hat in seinem Wort zum Weltflüchtlingstag gesagt: Solange die Situation auf der Welt so ist, wie sie ist, wird es keine große Hoffnung geben.
Die Menschen werden auf der Suche nach einem besseren Leben vor der Armut fliehen. Sie haben auch ein Recht auf Migration. Das ist ganz wichtig. Solange die Situation in Südamerika so ist, wie sie momentan ist, werden wir damit leben müssen. Einfach weil die Regierungssysteme extrem instabil sind und damit auch Flucht extrem ungünstig ist.
Das Interview führte Dagmar Peters.