Winfried Kretschmann wirkte persönlich angefasst und entspannt zugleich. Wie noch nie in seiner Zeit als baden-württembergischer Ministerpräsident gestattete er an diesem Wochenende Einblicke in seine Familiengeschichte.
Anlass war das Projekt "Friedensglocken für Europa", in dessen Rahmen drei von den Nationalsozialisten gestohlene Kirchenglocken nach Polen gebracht und ihren früheren Besitzern zurückgegeben wurden.
Kretschmann hatte als Kirchenbeauftragter der Landesregierung den katholischen württembergischen Bischof und Initiator des Projekts, Gebhard Fürst, nach Pommern und ins Ermland begleitet.
Geschichte der Familie Kretschmann
Von dort stammen die Eltern des Regierungschefs. Wie rund eine halbe Million anderer flohen sie im Winter 1944/45 vor der Roten Armee über das acht Kilometer breite zugefrorene Haff nach Westen. Weil Kretschmanns Vater die Situation so einschätzte, dass die Familie die Flucht zusammen nicht überstehen würde, lud der Vater die zwei älteren Kinder kurzerhand in ein vorbeifahrendes Pferdefuhrwerk.
Erst viele Jahrzehnte später erzählten die Geschwister - damals vier und sechs - ihrem Bruder Winfried, wie sie die Distanz zu den Eltern immer weiter wachsen sahen und dachten, die Familie würde sich vielleicht nie mehr wiedersehen.
Doch es kam anders. Unter Zehntausenden fanden die Eltern sie Tage später, gingen gemeinsam auf ein Schiff und landeten "nach einer Irrfahrt über die Ostsee" schließlich in Kopenhagen. Kretschmanns Bruder Winrich, damals elf Monate, überlebte die Strapazen der Flucht nicht. "Auf dem Totenschein steht Hungertyphus", sagt Kretschmann.
Ostpreußisch geprägt sieht sich Kretschmann, der selbst 1948 in Spaichingen auf die Welt kam, heute nur in einem Punkt: "Ich bin kein Nassesser" sagt er mit Blick auf die schwäbische Vorliebe, fast jedes Essen mit größeren Mengen Soße zu übergießen. Politisch lernte der Grüne schon früh pragmatisches Denken: "Mein Vater hat immer gesagt: Das kriegen wir nie wieder. Das war blanker Realismus." Zudem hätten die Eltern den Kindern beigebracht, im Hier und Jetzt zu leben; "Fluchtgeschichten" gab es deshalb in seiner Familie nicht.
Eine der drei Glocken kam nach Frauenburg, die Stadt, in der die Kretschmanns lebten, und in die Kirche, in der ein Bruder getauft wurde. Bei einem Denkmal für die tausenden Opfer der Vertreibung sprach er seine Hoffnung aus auf eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit von Deutschen und Polen auf der Grundlage guter Nachbarschaft und persönlicher Freundschaften.
Und Kretschmann sprach in diesen Tagen viel vom Frieden. So wie das in Gottesdiensten und Ansprachen bei der Übergabe der Glocken Fürst und die polnischen Bischöfe Jacek Jezierski und Jozef Gorzynski taten - gerade einmal zwölf Kilometer Luftlinie entfernt von der Grenze zu Russland; ein Land, dessen politische Zukunft und Ziele seit diesem Wochenende unklarer sind denn je.
Versöhnung zwischen Menschen und Völkern
Fürst konnte bei schönem Wetter und einer leichten Brise viel Wohlwollen und Freude spüren, die seine in dieser Form einmalige Initiative ausgelöst hat. Als Leitgedanken nennt er die Versöhnung zwischen Menschen und Völkern. Er wünscht sich, dass über die Rückgabe der Glocken hinaus Begegnungen möglich werden und dass ein Beitrag zur kirchlichen Friedensarbeit geleistet wird.
Ausgangspunkt des Projekts waren Arbeiten am Geläut des Rottenburger Doms Sankt Martin. Damals stellte sich heraus, dass eine Glocke aus dem heutigen Polen stammt. Ab 1940 wurden rund 100.000 Glocken in den früheren deutschen Ostgebieten und in besetzten Ländern abgehängt und der Rüstungsindustrie als Metallreserve zur Verfügung gestellt.
Bei Kriegsende blieben 16.000 Glocken erhalten; die meisten kamen zurück in ihre Gemeinden. Rund 1.300 landeten aber auf dem Hamburger "Glockenfriedhof" und wurden ab 1950 Kirchengemeinden in der Bundesrepublik überlassen. Bei der von Fürst angestoßenen systematischen Untersuchung in den katholischen Kirchen Württembergs zeigte sich, dass 66 weitere Instrumente vom "Glockenfriedhof" stammen, von denen rund 50 noch benutzt wurden.
Mitgereist aus Württemberg waren Vertreter der Pfarreien, die sich von einem Teil ihres Geläuts trennen mussten, dafür aber auf Kosten der Diözese neue Klangkörper erhielten. Beide Glocken, die alten und die neuen, nennt Fürst Friedensglocken. Für Kretschmann sind Glocken die Instrumente, die "Himmel und Erde verbinden". Der Bischof hofft, dass sein Projekt Modellcharakter hat. Damit gilt, was Kretschmann mit den Worten Friedrich Schillers und dessen "Lied von der Glocke" zum Ausdruck bringen wollte: "Freude dieser Stadt bedeute, Friede sei ihr erst Geläute."