DOMRADIO.DE: Über eine halbe Million Austritte aus der katholischen Kirche im Jahr 2022. Schockiert Sie das? Überrascht das?
Johannes Norpoth (Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz): Mich schockiert das noch nicht mal. Weder schockiert, noch überrascht es mich. Die Zahlen liegen quasi in einer Linie mit den letzten Jahren. Noch mal mit einer massivsten Steigerung. Interessant sind ja auch noch mal die Steigerungsraten in den einzelnen Bistümern. Die Zahl halbe Million ist im Grunde Ausdruck der Führungskrise innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland.
DOMRADIO.DE: Irme Stetter-Karp hat als ZdK-Vorsitzende gesagt, dass maßgeblich der Missbrauchsskandal dafür verantwortlich ist. Was sagen Sie dazu als Betroffenensprecher?
Norpoth: Da gebe ich der Präsidentin des ZdK vollkommen Recht. Man muss sich ja nur zwei Themenbereiche angucken: Der eine ist die Frage der Anerkennungszahlungen, Schmerzensgeld. Da klagt ein Betroffener gegen das Erzbistum Köln und bekommt vom Landgericht Köln eine Summe in Höhe von 300.000 Euro zugesprochen. Das ist das Zwölffache dessen, was die UAK, diese unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids und damit die Bischöfe für diesen Vorgang eigentlich für richtig erachtet haben. Das Zwölffache. Und das merkt man schon in der Öffentlichkeit.
Gleiches gilt für die Aufarbeitung. Wir schreiben das Jahr 2023. Der große Knall in Deutschland war die Veröffentlichung rund um das Canisius-Kolleg 2010. Aber den Bischöfen sind die ersten Missbrauchs-Studien und Untersuchungen, primär aus dem amerikanischen Raum, seit Mitte, Ende der 90er Jahre bekannt. Die deutschen Bischöfe haben bereits 2002 die ersten Ordnungen in diesem Themenfeld erlassen. Wenn ich mich dann 21, 22 Jahre danach wundere, dass selbst diejenigen gehen, die der katholischen Kirche eigentlich zugetan sind. Viele von denen sind, die jetzt gehen, gehen aus der Mitte unserer Gemeinde. Wenn die weglaufen und der Kirche den Rücken zukehren, dann ist das eine normale, eine nachvollziehbare Entwicklung.
DOMRADIO.DE: Bischof Bätzing hat in einem Statement gesagt: "Wir müssen weiter konsequent handeln. Die Menschen müssen erfahren, dass wir an ihrer Seite stehen." Ist ein "Weiter so" jetzt wirklich angebracht?
Norpoth: Also ich glaube, Bischof Bätzing meint an dieser Stelle nicht "Weiter so" im Sinne der althergebrachten traditionellen Schiene, sondern eher ein "Weiter so" mit Blick auf Fragestellungen der gemeinsamen Diskussion, "Gemeinsam entscheiden und beraten" rund um den Synodalen Weg und die da eingeschlagene Reformrichtung. Ein "Weiter so" im Sinne der traditionalistischen Denkweise führt diese Kirche in die Bedeutungslosigkeit. Wir sind schon, glaube ich, auf einem direkten Weg in die politische und öffentliche Bedeutungslosigkeit hinab zu sinken. Das ist eine ungebremste, eher beschleunigte Talfahrt vom letzten auf dieses Jahr. Aber wenn an dieser Stelle nicht endlich das Handeln in den Vordergrund kommt und das auch in der Gesellschaft ankommt, dann wird es schwierig.
Ich antworte ganz gerne mit zwei alten Kirchenreformern. Das eine ist Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, der von "Sehen, Urteilen, Handeln" gesprochen hat. Das andere ist ein Wort des Seligen Adolph Kolping: "Nicht das Wort, die Tat ziert den Mann". Das Handeln muss im Vordergrund stehen und genau das vermissen nicht nur viele Betroffene, das vermissen eben auch große gesellschaftliche Gruppen und viele, viele Katholikinnen und Katholiken aus unserer Mitte, aus der Mitte unserer Gemeinde, die für sich keine andere Lösung finden, als dieser Kirche den Rücken zu kehren.
DOMRADIO.DE: Warum bleiben Sie eigentlich in der Kirche? Sie hätten ja am meisten Grund, der Institution den Rücken zu kehren.
Norpoth: Nun weiß ich an dieser Stelle, dass man diese Institution nur dann ein bisschen in Schwingung und oder Bewegung bekommt, wenn man Teil auch der Entscheidungsgremien oder der Diskussionsgremien und der Strukturen ist. Insofern muss man da mitten rein, um aus dieser Mitte heraus entsprechend Bewegungen und Resonanz zu erzeugen. Das ist furchtbar ermüdend, das ist furchtbar schwierig. Es sind furchtbar viele kleine Schritte.
Manchmal kommt einem das vor wie die Echternacher Springprozession, allerdings mit einer größeren Anzahl der Schritte nach hinten als nach vorne. Aber nichtsdestotrotz sehe ich meine Position genau darin, in die Mitte reinzugehen und den Finger in die offene Wunde zu legen und deutlich zu sagen, wo was noch zu tun ist. Und es ist unfassbar viel zu tun, wenngleich auch viele Dinge eigentlich einfach und schnell zu regeln wären.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.